Diesmal klappt es. Hitler ist vollauf mit der Begradigung der Ostfront beschäftigt, so dass die Schweiz weiterhin ungeschoren bleibt und die Armee auf ihren Unteroffizier Weber ausnahmsweise ein paar Tage verzichten kann. Auch Anna ist abkömmlich. Verleger Schmalzer begleitet seinen Erzbischof zu einer Primiz in die Provinz. Und wie zur Bestätigung, dass es der liebe Gott dieses Mal gut meint mit ihnen, leuchtet eine strahlende Sonne am weißblauen Föhnhimmel über den Glarner Alpen. Krokusse sprießen, die ersten Bienen summen und eine laue Frühlingsluft leckt am Weiher an den letzten Schneeresten eines langen Winters, als Johnny und Anna Händchen haltend ihrer Bank zusteuern. Schade eigentlich, aber den beiden fehlt der Blick für den Aufbruch der Natur, so sehr sind sie in ihr Gespräch vertieft. Genauer gesagt, Johnny doziert, und Anna lauscht. Allerdings fehlt ihr diesmal die hemmungslose Bewunderung, mit der sie sonst an seinen Lippen hängt, wenn er beispielsweise über die Buchhaltung, das Kunstturnen oder neuerdings auch über das Schießen referiert. Ein paar zweifelnde Falten ziehen sich über ihre Stirn, was Johnny aber nicht auffällt. Es geht ihm wieder mal ums Grundsätzliche, diesmal zum Thema „Ehe und Kinder“ . Wirtschaftliche Verhältnisse und die Gesundheit der Mutter sollten für die Anzahl der Kinder entscheidend sein. Keine Mütter sollen Kinder gebären, wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Und auch gesunde Mütter nur so viele, wie man entsprechend versorgen, erziehen und ausbilden kann. Sonst passiert es, dass Arme Kinder in die Welt setzen, die dann der Öffentlichkeit zur Last fallen. Ohne Chancen auf eine Zukunft, dumm, krank oder gar kriminell, ihren Eltern eine Schande und ihrer Umgebung ein Ärgernis. Oder wie in Afrika und Indien, wo die Kinderzahl den Wohlstand ganzer Völker verhindert, weil es nie gelingt, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Beim Stichwort „Afrika und Indien“ kann Anna nicht mehr länger an sich halten. Sie erzählt mit trotziger Begeisterung von Schmalzers Missionaren, die im Urwald Kirchen bauen und Schulen gründen, den Kindern Beten, Singen, Schreiben und Rechnen beibringen und dafür sorgen, dass sie nicht als Heiden der ewigen Verdammnis anheimfallen. Das ist nicht das, worauf Johnny hinauswill. Seine Kinder sollten es einmal besser haben. Auch als Chefbuchhalter könnte er sich nicht mehr als ein, zwei Kinder vorstellen. Und dies frühestens ein, zwei Jahre nach der Hochzeit. Damit man sich als Paar erst mal zusammenfinde und etwas aufbaue. Das sei schließlich das Wichtigste. Dabei umarmt er sie und will sie küssen. Anna wehrt ihn ab. Kann ihre Enttäuschung nicht mehr verhehlen. Sieht es anders. Sie möchte Kinder. Wie viele, weiß sie noch nicht. Aber gleich, nicht erst nach zwei Jahren. Wofür sonst überhaupt heiraten? Johnny drückt sie an seine Brust und flüstert: „Wir müssen uns erst einmal richtig lieben lernen!“
Pater Frido zieht eine Augenbraue hoch – ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht in seinem Sinne läuft. „Hat der Jungmann denn überhaupt verstanden, was der Verzicht auf Kinder in einer katholischen Ehe bedeutet?“ Anna schüttelt den Kopf. Auch sie hat sich offenbar noch wenig Gedanken dazu gemacht.
„Sexuelle Enthaltsamkeit, auch nach der Hochzeit – keine körperliche Liebe bis auf wenige Tage im Monat! Wird er dazu willens und in der Lage sein, wenn er schon jetzt den Anfechtungen des Fleisches kaum gewachsen ist, wie Du mir berichtet hast? Andere Methoden erlaubt die Kirche aber nicht, denn alle anderen Methoden versündigen sich gegen Gottes heilige Naturgesetze und führen geradewegs in die ewige Verdammnis!“
Anna senkt den Blick auf den gekachelten Boden des Sprechzimmers und schweigt. „Du möchtest doch Kinder, Anna?“
Sie blickt zu ihm hoch und nickt. Tränen stehen in ihren Augen.
„Siehst du! Und dafür hat uns der liebe Herrgott auch die körperliche Liebe gegeben und zu nichts Anderem. Glaub mir, Ehen, die sich in der Hinsicht versündigen, werden nicht glücklich – können nicht glücklich sein! Und viele Frauen, die sich der männlichen Fleischeslust und den sündhaften Verhütungsmethoden unterworfen haben, werden unfruchtbar und müssen, wenn sie sich schließlich doch noch ein Kind wünschen, auf immer verzichten.“ „Das ist ja furchtbar!“, flüstert Anna, und Pater Frido nickt. Dann gibt er ihr seinen Segen.
Die Stunde der Anwälte – 2000
Monate sind seit Annas Begräbnis vergangen, doch die Erbteilung ist keinen Millimeter weitergekommen. Warum? Alles wäre doch ganz einfach: Erbmasse geteilt durch fünf Kinder. Doch so einfach ist für Agnes und Bigi gar nichts. Nur ein Fünftel zu bekommen, hieße ja, zu kurz zu kommen. Die Einzigen, die genervt einen Schlussstrich ziehen möchten, sind Bernhard und Gret-Lisbeth. Was Bigi im Schilde führt ist unklar. Sie weicht auf Kleinkram aus, möchte erst die silbernen Löffel und Briefmarkenalben richtig geteilt haben, bevor man über „das Große“ spricht. Frater Ursus hüllt sich in Schweigen. Wohlweislich, denn ihm wird ja wegen der Finanzierung seines gescheiterten „Landgasthofs Jura Höhe“ durch Johnny ein „Erbvorbezug“ unterstellt. Aber auch das müsste erst mal bewiesen werden. Wohl deshalb blockieren Agnes und Franz jeden Vorschlag mit dem Hinweis auf fehlende Informationen. Ohne handfeste Beweise, hat ihnen der Anwalt gesagt, wird es schwierig werden, eine Benachteiligung von Agnes geltend zu machen. Rechtsanwalt Walter hat bereits Briefe mit massiven Forderungen an Gret-Lisbeth verschickt: Umgehende Offenlegung aller Steuer- und Vermögensunterlagen und aller Kontoauszüge der verstorbenen Eltern. Und zwar für die letzten 25 Jahre. Gret-Lisbeth, die ihnen im Pflegeheim die Vermögensverwaltung gemacht hatte, droht, den Aktenberg, den Johnny im Laufe der Jahrzehnte angehäuft hat und der jetzt ungeordnet auf ihrem Dachboden liegt, dem Anwalt per LKW vor seine Kanzlei zu kippen.
Die Replik kommt postwendend. Auf die Anlieferung werde „vorläufig verzichtet“, dafür solle ein Mensch namens Peter Hubacher (wahrscheinlich ein Kegelbruder von Franz) zum Testamentsvollstrecker ernannt werden. „Mit uneingeschränktem Zugang zu Frau Webers Dachboden.“ Ohne juristische Hilfe geht jetzt gar nichts mehr.
Man hat Gret-Lisbeth einen Anwalt in Huwyler empfohlen. Der Vorteil: Der kenne sich aus mit den örtlichen Gegebenheiten, den Ämtern, den Banken. Der empfohlene Anwalt Pfleiderer, ein bäuerlich wirkender Typ mit exaktem Linksscheitel und buschigen Augenbrauen ist etwa in Bernhards Alter. Er wiegt nachdenklich das Haupt. Mit fünf, sechs Jahren müsse man rechnen. Minimum. Sagt er und versucht dabei, ein bekümmertes Gesicht zu machen. Gret-Lisbeth schnappt in ihrer impulsiven Art nach Luft und hofft, sich verhört zu haben. Herr Pfleiderer lächelt milde. Sein ältestes Erbstreit-Mandat gehe jetzt ins sechzehnte Jahr. Und bei denen seien es nur drei Parteien – hier hingegen fünf! Im Übrigen koste er nur 250 Franken pro Stunde, wo andere gut und gern das Doppelte nähmen. Gret-Lisbeth will wissen, wie er vorzugehen gedenke. Natürlich werde er alle Ansinnen von Kollege Walter als unbegründet zurückweisen und den vorgeschlagenen Testamentsvollstrecker ablehnen – damit sei schon mal Zeit gewonnen. Dann müsse Dr. Walter nämlich alles haarklein begründen, und er wiederum könne die Begründungen zerpflücken. Allerdings müsse man dann damit rechnen, dass Dr. Walter auch ihre Vorschläge ablehne. Entscheidend sei letztlich, wer den längeren Atem habe.
„Verstehen Sie jetzt, was ich meine, wenn ich sage: Zeit ist das, was man bei einem Erbstreit vor allem braucht?“
„Und Geld“, sagt Bernhard.
„Auch das“, pflichtet Herr Pfleiderer bei. „Aber dafür erben Sie ja in ein paar Jahren etwas.“
„Fragt sich nur, ob nach Abzug aller Anwaltskosten noch viel übrig bleibt“, wirft Gret-Lisbeth ungerührt ein.
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