Hannes Meier
UND DER KRIEG DER ZU KURZ GEKOMMENEN
Roman
Annas Chronik und der Krieg der zu kurz Gekommenen
Hannes Meier
Umschlag & Satz: sabine abels www.e-book-erstellung.depublished by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.deCopyright: © 2016 Hannes Meier
Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Die letzten Dinge regeln – 1999
Anna findet eine Arbeit und einen Mann – 1917 bis 1940
Gantenbein will eine Kontovollmacht – 1999
Was sich für Doblers ziemt und was nicht – 1940 bis 1941
Die Stunde der Anwälte – 2000
Sündiges Treiben und himmlische Zeichen – 1941
Weitere Abrechnungen – 2000
Anna stellte ein Ultimatum – 1941 bis 1942
Aliens, ein Börsencrash und ein verschwundenes Testament – 2001
Eine strahlende Braut bekommt ein Sterbekreuz – 1941 bis 1942
Eine Emanzipation, die in die Hosen geht – 2001
Das Pochen der Angst und des neuen Menschleins – 1942
Bigis Grabmal – 2001
Anna verspricht der Heiligen Jungfrau ein Kind – 1943
Gret Lisbeth in der Falle – 2001
Zwischen allen Fronten – 1945
Franz gewinnt – 2002
Römisches Roulette – 1946 bis 1948
Die Retourkutsche – 2002
Das ungewollte Kind – 1949
Madame Soleil führt durch den Jura Hof – 2002
Ein Auto, ein Schicksalsschlag und noch ein Kind – 1954
Das getürkte Haushaltsbüchlein – 2002
Anna weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht – 1957
Neue Fronten – 2003
Annas Kampf gegen Gottlosigkeit und Sünde der Kinder – 1960
Ein Pyrrhussieg für Gret-Lisbeth – 2003
Die Verstoßung der Bösen – 1963
Vom Gleichgewicht der Niedertracht – 2003
Anna erbt und Johnny macht eine Investition – 1966 bis 1985
Franz sucht Erleuchtung, Bernhard verliert seinen Job und Agnes den Verstand – 2004
Die Rückkehr der Kinder – 1989
Bigi fädelt etwas ein – 2004
Annas letzter Eintrag – 2004
Annas Befreiung – 1997
Das zehn-kleine-Negerlein-Prinzip – 2004
Johnny stirbt und Franz sieht eine Kostenersparnis – 1998
Die Schlichtung – 2007
Das Ende der goldenen Straße – 1999
Herzlichen Dank
Die letzten Dinge regeln – 1999
Das Sterbezimmer. Ein schmuckloser Raum, ganz am Ende des langen Flurs. Dort, wo sonst keiner mehr hinkommt. Ein Kreuz an der Wand. Eine flackernde Kerze. Die tote Anna liegt im Bett auf blütenweißen Kissen. Ihr ausgemergeltes Gesicht wird von einem lila Kinnband zusammengehalten. Rosa Bäckchen, geschminkte Lippen, violetter Lidschatten. So, wie sie im Leben noch nicht einmal zur Weiberfasnacht gegangen wäre.
Neben dem Bett: Annas fünf erwachsene Kinder und ein Schwiegersohn auf zwei akkurat angeordneten Stuhlreihen. Zwei hinten, vier vorn. erlegenes Schweigen. Hin und wieder ein Hüsteln. Hinten links Bernhard, 56, der Älteste, Journalist beim Fernsehen. Graues Haar, am Hinterkopf schon etwas schütter, gepflegter Kinnbart, Bauchansatz. Ein Handy schnurrt. Neben ihm greift Gret-Lisbeth in die Handtasche und stellt es stumm. Ein kurzer Blickwechsel. Die spöttischen Augen hinter der Hornbrille lassen Bernhard manchmal arrogant erscheinen. Seine Schwester zuckt mit den Schultern. Sorry. Trotz ihrer 52 immer noch eine tolle Frau. Promoviert, Chefberaterin bei dieser Heuschrecken-Firma. Aber immer tipp-top im Auftreten. Burschikoser Kurzhaarschnitt, Hosenanzug, energisches Kinn.
In der Reihe vor ihm herrscht Betroffenheit. Agnes, 55, die zweitälteste, wischt sich mit einem umhäkelten Taschentuch eine Träne aus dem Augenwinkel. Aschblondes Haar, streng geknotet, grauer Rock, rosa Bluse, mager, ein bitterer Zug um den Mund. Beruf: Hausfrau und rechte Hand im Büro ihres Mannes. Der sitzt daneben: Franz, eins neunzig groß, zerknitterter Anzug, keine Regung im bulliges Gesicht. Als vereidigter Gutachter hat man jeden Anschein von Persönlichem zu vermeiden. Früher nannte Agnes ihn Möpsli. Als sie noch verliebt war. Bei den Geschwistern heißt er immer noch so. Neben Agnes: Brigit, genannt Bigi, Mode-Designerin, 55. Teure Kurzhaarfrisur, grüner Minirock, sehr rote Pumps, hautenger, gelber Kaschmirpulli. Ein etwas gewagtes Outfit für eine Totenwache. Aber wahrscheinlich ist sie direkt vom Atelier gekommen. Aufseufzend lässt sie den Kopf in die Hände sinken. Aufseufzend. Bernhard versucht, nicht unfair zu werden. Wahrscheinlich trauert sie ja wirklich hinter ihrer dunklen Ray-Ban-Sonnenbrille. Seit er es abgelehnt hat, ihre Kindermodenschau ins Fernsehen zu bringen, hat sie jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Ihr Mann ist Arthur La Roche. Der von der Bierbrauerdynastie. Wie meistens, wenn’s um Familiäres geht, ist Arthur verhindert.
Der letzte Stuhl in der ersten Reihe ist leer. Frater Ursus, ein Mönch, steht am Fenster und betet. Aufgeschwemmtes Gesicht vom Cortison, das er gegen sein Rheuma nimmt und ziemlich viel Volumen in der Kutte. Ob er Anna zuliebe mit 40 noch ins Kloster ging? Als Koch war er damals am Ende, sein Lokal bankrott. Doch dann köchelte er die „Pilgerstube“ des Klosters Meggenfurt zu einem gut besuchten Gourmet-Lokal hoch. Der Segen von Annas endlich erfülltem Gelübde ruhte auf ihm.
Bernhard betrachtet die tote Mutter. Ein Holzkreuz in den knotigen Händen. Hände, mit denen sie ein Leben lang für andere geschuftet und gegen die Schicksalsschläge ihres unbarmherzigen Gottes angebetet hatte. Hände, von denen man oft nicht wusste, warum sie zuschlugen. Manchmal spontan, manchmal als Ritual, wie auf dem mittelalterlichen Richtplatz. Die Geschwister als schaulustiges Volk, schwankend zwischen Entsetzen und Schadenfreude, wenn der Teppichklopfer auf den nackten Hintern niederfuhr. „Ein böses Kind schlagen zu müssen, tut der Mutter mehr weh als dem Kind“, sprach Anna mit roten Wangen und flackernden Augen, wenn sich der Delinquent schreiend am Boden wälzte, und dann wurde gebetet. Dabei hatte sie ihre Kinder geliebt. Die einen mehr, die anderen weniger, je nachdem, wie schwer sie es ihr und Johnny machten. Am größten war die Liebe, wenn das Kind in ihrem Bauch strampelte oder nuckelnd an ihren Brüsten lag.
Ob Anna jetzt im Himmel ist? Oder wenigstens im Fegefeuer? In ihrem erloschenen Gesicht keine Antwort, nur fromme Strenge. Wie bei den gotischen Figuren über dem Portal der Pfarrkirche.
Ein leises Klopfen an der Tür. Frau Füglister, die Pflegeleiterin, schleicht in den Raum, gefolgt von einem schwarz gewandeten Bestatter. Ihr Dutt und die Stahlbrille erinnern Bernhard an seine längst verstorbene Oma. Dabei ist sie wahrscheinlich noch keine fünfzig. Sie beugt sich flüsternd zu Gret-Lisbeth. Die schaut in die Runde. Bernhard nickt. Die Pflegeleiterin löst die Bremsen des Bettes, der Bestatter packt mit an. Sie wollen die Tote aus dem Zimmer schieben. Bigi springt auf, wirft sich dramatisch auf das Bett, küsst laut schluchzend Annas bleiches Gesicht. Peinlich berührt zischt Bernhard: „Bigi! Bitte!“ Empörte Blick von Agnes, die ihre Schwester sanft von der Toten wegzieht, assistiert von Franz. Verunsichert sieht die Pflegeleiterin wieder zu Gret-Lisbeth. Ein dezentes, aber energisches Handzeichen. Quietschend entfernt sich das Bett im Flur.
Ein Augenblick der Ratlosigkeit. Bigi ordnet die verrutschte Sonnenbrille und die Frisur. Gret-Lisbeth steht auf. Die andern folgen, Bigi gestützt von Agnes und ihrem Franz. Bernhard hinkend als letzter.
***
Während im Keller der „Trauerhilfe „In Aeternum“ Anna für die Aufbahrung vorbereitet wird, sitzen die Hinterbliebenen gegenüber im Tea-Room Denzler vor frischem Gebäck. Betretenes Schweigen. Keiner isst. Bigi schluchzt leise. Agnes legt die Hand auf ihren Unterarm. „Gott sei Dank, dass sie nicht länger hat leiden müssen.“ „Und mit den letzten Tröstungen der Kirche hat gehen dürfen“, ergänzt Urs, der sich allein an die leere obere Hälfte des Tisches gesetzt hat. „So oder so. Einmal trifft es jeden“, beendet Franz das Thema und nimmt von der Serviererin seinen Kuchen entgegen.
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