Johnny, obwohl schon 23 und als kaufmännischer Angestellter gut im Brot, wohnt immer noch im Haus seiner Eltern. In seinem alten Kinderzimmer steht jetzt zwar auf dem Schülerschreibtisch eine nagelneue Hermes-Schreibmaschine (mit umschaltbarem Farbband schwarz/rot!). Über dem Bett hängt ein Bild mit Höhlenbewohnern, die ein Mammut jagen und ein Plakat vom „Eidgenössischen Turnerfest 1938 in Thun“, auf dem ein eleganter Turner in eleganten Keilhosen über dem Reck schwebt. Die geliebte Armbrust, mit der Johann früher auf Spatzen schoss, ist verschwunden. Dafür lehnt seit der Rekrutenschule ein Schweizer Armee-Karabiner neben dem Schrank. In der Schublade ist eine Armeepistole mit hundert Schuss Munition. Sonst hat sich nicht viel verändert, außer, dass sich zu den Büchern von Karl May und der ´Via Mala´ von John Knittel auf dem schmalen Bücherbrett über dem Bett ein prächtiger Bildfoliant über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin dazu gesellt hat. Johnny war damals begeistert von Hitlers „Fest der Völker“ und berauschte sich an Leni Riefenstahls Fotos der Athleten im Gegenlicht, den flatternden Hakenkreuzfahnen, dem Fackellauf entlang der himmelstrebenden Olympia-Bauten und auch an dem 60.000 Arme reckenden Hitlerjungen und SA-Leuten, dem Portrait mit dem herrischen Blick auf der letzten Seite: „Und über allem steht der Führer“. Bis zum Überfall auf Polen bewunderte und beneidet Johnny also die Deutschen, dachte, ein Stück von ihrer zackigen Großspurigkeit könnte sich die biedere Schweiz durchaus abschneiden. Damit stand er nicht alleine. Sogar Bundesräte liebäugelten mit einem Anschluss à la Österreich, es gab eine schweizerische NSDAP, deren Führer Gustloff allerdings schon 1936 von einem jüdischen Studenten in Davos erschossen worden war. Jetzt, 1940, hat sich die Situation gründlich geändert. Es ist Krieg. Die neutrale Schweiz ist umzingelt von den Achsenmächten, ein Land nach dem andern ist von Hitler überrannt worden. Man fürchtet täglich den Einmarsch. Seit 1940 herrscht Notstand, die Armee hat die Generalmobilmachung befohlen und ist entschlossen, die Heimat militärisch zu verteidigen. Um die Wirtschaft des Landes nicht lahm zu legen, werden abwechselnd Teile der wehrfähigen Männer an den Grenzen und in der Alpenfestung in den Bergen stationiert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Johnny einrücken muss. Kriegsverdunkelung ist auch in der Schweiz angeordnet. Auf Druck von Hitler und Mussolini, damit die alliierten Bomber sich schlechter orientieren können. Mit der Folge, dass es immer wieder zu „irrtümlichen“ Bombardierungen von Schweizer Städten kommt. Doch Johnny und Anna haben nichts gegen die Verdunkelung. Sie entzieht ihre Zärtlichkeiten dem Blick der neugierigen Kleinstadtbürger, wenn Johnny sie am Sonntagabend zum Bahnhof bringt.
Dass Johnny mit 23 immer noch gerne zu Hause wohnt, liegt auch an Gret Weber, seiner Mutter, einer gutmütigen, korpulenten Frau, etwas phlegmatisch und gern am Jammern. Sie verwöhnt ihr einziges Küken nach Strich und Faden, auch wenn es inzwischen ein prächtiger Hahn geworden ist. Sie wäscht und bügelt seine Wäsche und zaubert ihm und seinem Vater in normalen Zeiten Köstlichkeiten auf den Tisch, die auch der gehobenen Küche zur Ehre gereicht hätten. Jetzt aber ist Krieg und auch in der Schweiz herrscht Mangel. Natürlich ist die Not der Bevölkerung nicht so groß wie in den kriegsführenden Ländern, aber durch das Embargo der Achsenmächte fehlen plötzlich Lebensmittel, die vorher aus dem Ausland importiert wurden. 1940 ruft die Regierung zur „Anbauschlacht“ auf. Jeder Quadratmeter, ob Garten, Park oder Sportplatz, soll mit Getreide, Kartoffeln und Obst bepflanzt werden. So muss die Schweiz, als einziges Land in Europa zwischen 1940 und 1945 nie Gemüse, Kartoffeln und Obst rationieren. Auch bei den Webers kommt jetzt viel Selbstgezogenes auf den Tisch. Johnny lässt es sich unter den Fittichen seiner Mama gut gehen, zahlt keine Miete, steckt höchstens ab und zu einen Zehner in ihre Haushaltskasse und sieht keinen Anlass, sich nach einer eigenen Bleibe umzusehen. Mutter Gret ist, wie gesagt, eine Reformierte. Vor der kirchlichen Trauung musste sie geloben, ihre Kinder im katholischen Geiste zu erziehen (anders geht es nicht, wenn man im stockkatholischen Huwyler einen Beamten heiraten will). Dieses Versprechen bringt aber weder sie noch Johnnys Vater August um den gesunden Schlaf. Von seinem Wesen her neigt auch August weniger zum Grübeln. Gut gelaunt, eine frischgepflückte Nelke im Knopfloch, gibt er den Lebemann und Genießer und lässt jeden nach eigenem Gusto selig werden. Tagsüber ein korrekter Beamter im Rathaus, am Abend gesellig mit der Brissago im Mundwinkel und einem Viertel Roten vor sich, beim Kartenspiel im „Rössli“. Summa summarum also ein ziemlicher Kontrast zur herben Damenriege im Stadthaus.
Gantenbein will eine Kontovollmacht – 1999
Dass man Franz und Agnes mit den Todesanzeigen betraut hat, entpuppt sich als Fehlgriff. Mitten in die Sitzung des Inlandjournals platzt Bernhards Sekretärin ins Zimmer. Es wäre dringend. Ein Herr Gantenbein verlange Herrn Weber am Telefon und lasse sich nicht abwimmeln. Ärgerlich geht Bernhard ins Vorzimmer. Am andern Ende der Leitung lacht Franz.
„‘Mein Name sei Gantenbein‘ – du kennst doch deinen Max Frisch oder? Identitätswechsel!“ Manchmal verblüfft ihn Franz mit Bruchstücken aus seiner vorzeitig beendeten Gymnasialzeit.
„Was willst du?“ „Hätte ich mich als Franz Moser gemeldet, hättest du dich verleugnen lassen, stimmt’s? Also Gantenbein.“
Er lacht wieder. Bernhard bleibt sachlich.
„Ich bin beschäftigt, ich leg jetzt auf, Franz.“ „Moment – es geht um die Konten. Wenn ich die Beerdigung deichseln soll, brauche ich den Zugriff auf die Konten.“ „Gret-Lisbeth hat die Vollmacht. Schick ihr die Rechnungen.“ „Wieso Gret-Lisbeth und nicht Agnes?“ „Weil der Vater es so bestimmt hat, als er mit Anna ins Pflegeheim kam. Und weil Gret-Lisbeth kompetent ist.“ „Moment! Willst du damit sagen, dass Agnes und ich inkompetent sind!“ „Ich will damit sagen, dass es so geregelt ist. Nach Johnnys Tod war Anna die einzige, die es hätte ändern können, und Anna ist jetzt tot. Also bleibt es so, bis das Erbe vollstreckt ist.“ „Scho falsch! Das Amtsnotariat kann jederzeit Agnes zum Erbvollstrecker bestimmen.“ „Du meinst dich? Du kannst es ja mal versuchen…“ „Und ob! Ihr werdet uns noch kennenlernen!“
Natürlich haben einige die Abwesenheit ihres Ressortleiters genutzt, um der Sitzung einen andern Drall zu geben. Als Bernhard zurückkehrt, wird gerade diskutiert, ob man für den Magazinbeitrag „Maulkorb und Leinenpflicht für alle Hunde?“ auch ein Statement von der rechtspopulistischen SVP des Herrn Blocher „abholen“ sollte. Schon aus Gründen der `Ausgewogenheit`. Schließlich sei das kantonale Veterinäramt, das hauptsächlich zu Wort komme, in der Hand der `Freisinnigen`…
Bernhard, schon ziemlich angefressen vom Gespräch mit seinem Schwager, beendet den Diskurs mit der Bemerkung, da es sich um Hunde und nicht um ausländische Zuwanderer handle, werde man in diesem Fall auf ein Statement des unvermeidlichen Herrn Blocher verzichten. Dann schließt er die Sitzung. Es gibt so Tage…
***
Am späteren Nachmittag trifft sich Bernhard mit Gret-Lisbeth vor dem alten Pfarrhaus. Seit ihrer Jugend sind sie nicht mehr hier gewesen. Sie haben es ziemlich heruntergekommen in Erinnerung, aber inzwischen ist das Haus aus dem 16. Jahrhundert prachtvoll renoviert. Bernhard betätigt den historischen Türklopfer. Pfarrer Sturzenegger, etwa vierzig, modische Kahlfrisur, Hornbrille, Jeans und Holzfällerhemd öffnet persönlich. Auf der ebenfalls renovierten Holztreppe, die nicht mehr knarzt, läuft er sportlichen Schrittes nach oben. Alles noch da, wie in seiner Ministranten Zeit, aber jetzt picobello renoviert, denkt Bernhard. Die fleckigen Wände sind weiß gekalkt, auch die Heiligenfiguren in den Nischen scheinen ein Lifting hinter sich zu haben. Grinsend macht er seine Schwester auf den heiligen Sebastian aufmerksam, aus dessen Bauch ein nagelneuer Pfeil ragt. Sturzenegger, der die Geste missversteht, nickt bestätigend: „Ja, ja, die Kirche pflegt ihr kulturelles Erbe!“ Sie setzen sich an den alten Tisch. Sturzeneggers Katechet oder Sekretär, ein bleicher Knabe im Kaschmirpullover, macht Ingwer-Tee. Was mit Pfarrer Kägi sei, fragt Bernhard. Der war lange krank und sei letztes Jahr „hoch betagt“ verstorben. Schade, meint Bernhard, den hätte er gern nochmals gesehen. Ein Pfarrer wie aus dem Bilderbuch, der seinen Schäfchen von der Kanzel herunter auch mal die Leviten las. Tja, lächelt Sturzenegger nachsichtig, zum Glück habe sich seither einiges getan. Gret-Lisbeth entschuldigt sich, dass sie die Entwicklungen der Kirche nicht mehr so mitgekriegt habe. Sie sei schon lange ausgetreten. Ob es denn die Sterbemessen und Sterberosenkränze überhaupt noch gebe? Die Mutter sei nämlich ziemlich altmodisch gewesen in ihrem Glauben. Bernhard ergänzt, das Fresko vom jüngsten Gericht über dem Chor der Pfarrkirche habe Anna schon als Kind geprägt. Sturzenegger wirkt leicht eingeschnappt. Natürlich gibt es Totenmessen und Sterberosenkränze noch! Was es allerdings nicht mehr gebe, sei das nazarenische Wandgemälde über dem Chor. Man habe „Das Jüngste Gericht“ schon vor Jahren entfernt, weil es „ablenkend“ und für den modernen Glauben nicht „zielführend“ gewesen sei. „Schade“, entfährt es Gret-Lisbeth, „es war so schaurig schön.“ Sturzenegger überhört es und schlägt vor, nicht nur eine Totenmesse („mit oder ohne heilige Kommunion?“ „Mit. Franz, Agnes und Urs sind ja gläubig“), sondern auch Jahresmessen und entsprechende Abendrosenkränze zu buchen. Zu den Tarifen und andern Fragen rund um die Bestattung gibt es das Faltblatt „Für die trauernden Angehörigen“. Um zum Gedenken an die Tote ein paar Worte sagen zu können, benötige er biografische Angaben. Bernhard fragt, ob er denn die Verstorbene nicht gekannt habe? Sie sei doch eine fleißige Kirchgängerin gewesen.
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