liebe Grüße Anna.“
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten und schon zwei Wochen später trifft man sich zum ersten Tête-à-Tête am Huwyler Weiher, der zu dieser Jahreszeit höchstens von ein paar lustlos gründelnden Enten belebt wird. Kalt ist es den beiden auf der Parkbank aber nicht. Den Kopf neben seiner starken Schulter durchströmt ein nie gekanntes heißes Prickeln ihren Bauch. Er berichtet vom Kantonalen Turnfest (es ist zwar schon ein paar Wochen her), wo er am Barren Sechster wurde und sich am Reck bestimmt noch weiter vorn platziert hätte, wenn man ihm nicht seinen sensationellen Doppelsalto wegen eines falschen Griffs aberkannt hätte! Anna sieht Johnny vor ihrem geistigen Auge, wie einen Engel, in strammer weißer Keilhose, schwerelos durch die Lüfte schweben. Sie verspricht, am Sonntagnachmittag zum Training zu kommen. Hand in Hand geht es dann vorbei an Enten um den kleinen See zurück – ab der Stadtgrenze ohne Händchenhalten. Zum Abschied, in der dunklen, menschenleeren Apotheken-Passage, haucht er ihr einen Kuss auf die Wange, was Annas Herzschlag verdoppelt und später zu Mamas Frage führen wird, woher sie die roten Backen habe? Von der Kälte natürlich. Noch ahnen weder Mutter noch Magdalena noch Tante Rosa, was sich nach all den männerlosen Jahren hinter ihrem Rücken zusammenbraut. Am nächsten Tag – es ist Sonntag – trifft sich Anna mit Johnny im Hochamt. Besser gesagt, man trifft sich auf Distanz. Denn in der Pfarrkirche gilt strikte Geschlechtertrennung. Links die Mädchen und Frauen, rechts die Knaben und Männer, dazwischen der Mittelgang. Vorne überspannt ein Wandgemälde das Schiff. Es zeigt das Jüngste Gericht. In der Mitte thront ein zürnender Gott, flankiert von zwei Engeln mit Flammenschwertern. Auf seiner rechten Seite versammeln sich die Frommen auf ihrem Weg ins rosa leuchtende Paradies, zur Linken zerren Teufel und Dämonen schreiende Halbnackte hinab in Finsternis und lodernde Flammen. Schon als Kind hat diese Szene tiefen Eindruck auf Anna gemacht. Und schon damals ahnte sie, dass Sünde und ewige Verdammnis etwas mit Entblößung zu tun haben müssen. Heute aber steht Anna der Sinn nicht nach Höllenqualen. Mit Inbrunst und wie aus der Pistole geschossen kommen ihre lateinischen Antworten auf den psalmodierenden Singsang von Pfarrer Kägi am Hochaltar: „Dominus vobiscum“. „Et cum spiritu tuo“. Es herrscht eine feierlich gehobene Stimmung, wallender Weihrauch und brausende Orgelklänge verschaffen Anna in ein euphorisches Glücksgefühl. Hin und wieder wirft sie einen Blick auf die dumpf mitbrummelnde Männerseite, der von Johann forsch lächelnd erwidert wird (an diesem geweihten Ort scheint ihr „Johnny“ irgendwie unpassend). Was Magdalena nicht entgeht, die neben Anna kniet. Als es nach der Messe zu einem scheinbar harmlosen Schwatz zwischen den beiden kommt, ist ihr die Sache klar. Beim Mittagessen – Tante Rosa hat Hackbraten mit Nüdeli gemacht – lässt sie die Bombe platzen. Warum der Weber Junior jetzt ins Hochamt gehe? Sonst sehe man die Webers doch höchstens in der Elf-Uhr-Messe. Wenn überhaupt. Anna wird puterrot und Mama bitterböse. Ob sie sich letzthin nicht deutlich genug ausgedrückt habe? Oder ob das Wort einer Mutter gar nichts mehr gelte? Anna verteidigt sich nicht sehr überzeugend mit dem Argument, man werde sich nach der Messe ja wohl noch mit einem ehemaligen Schulkameraden unterhalten dürfen. Magdalena setzt noch einen drauf. Sie habe ganz genau gesehen, wie sich die beiden beim Hochamt zugezwinkert hätten! Zugezwinkert! Während der HEILIGEN Messe! Das bringt Tante Rosa so in Rage, dass sie Anna eine Ohrfeige gibt und Mama sie schrill von der Tafel weist. Schluchzend verschwindet Anna in ihrem Zimmer, das sie mit Magdalena teilt. Diese kommt dann auch prompt nach dem Essen, um ihr mitzuteilen, dass sie für heute Zimmerarrest habe. Später erscheint dann Mama, um zu beten. Anna muss sich vor dem Kreuz niederknien und den Herrn um Verzeihung für ihre gotteslästerliche Tat bitten. Zur Buße gibt es dann noch einen schmerzhaften Rosenkranz und von Tante Rosa einen Korb voll Wäsche zum Bügeln. Und Johnny wartet vergeblich in der Turnhalle. Dafür bekommt er dann zwei Tage später einen Brief.
„…Gell, du bist mir nicht bös, Johnny, aber es gab noch so viel im Haushalt zu tun, dass ich mich unmöglich davonstehlen konnte…Umso mehr war ich in Gedanken bei dir und deinem Training.“
Nach einer weiteren Durststrecke von drei Wochen – so lange dauert es, bis Verleger Schmalzer seiner Haushälterin wieder einmal ein freies Wochenende gönnt – ist Anna gewiefter. Sie treffen sich nicht unter den Augen der halben Kleinstadt im „Hochamt“, sondern diskret nach der samstäglichen Beichte. Und da es ein wunderschöner Herbsttag ist, fahren sie mit den Fahrrädern hinaus aufs herbstliche Land. An einem Waldrand legen sie sich in die dünne Sonne. Galant hat Johnny seine Jacke für Anna als Unterlage ausgebreitet. Erst reden und lachen sie, dann küssen sie sich und können nicht mehr aufhören. Es ist schon dunkel, als Anna wie in Trance ins „Stadthaus“ zurückkommt und in einem Anfall von Verwegenheit verkündet, dass Johann Weber und sie sich prüfen wollen im Hinblick auf das heilige Sakrament der Ehe. Mama wird stumm vor Schreck und Tante Rosa knurrt: „So etwas wie ein Mann kommt mir nie ins Haus!“ Aber wirkliche Argumente gegen ein Kennenlernen „im Geiste der Kirche“ fallen beiden nicht ein. So beschränkt sich die Mutter darauf, die Begegnungen mit diesem Herrn Weber vorauseilend zu reglementieren: „Nicht mehr als einmal im Monat!“ „Wie soll man sich prüfen, wenn man sich überhaupt nicht sehen darf!“ „Deine Schwester kann euch begleiten!“ „Die ärgert uns nur!“ „Er kann ja zu uns kommen und ihr könnt hier Mühle spielen!“ „Wir möchten aber nicht nur Mühle spielen!“ „Aha! Genau das habe ich befürchtet!“ Unwirsch unterbricht Tante Rosa und bringt die Sache auf den Punkt: „Männer bringen Unglück. Immer. Schlag ihn dir aus dem Kopf“ „Ich will aber mal Kinder haben und nicht als alte Jungfer enden!“, schreit Anna und fängt von der Mutter eine Ohrfeige. „Auf solche Saugofen wie dich, kann ich schon lange verzichten!“ ergänzt Rosa wütend. Mutter befiehlt Anna scharf, sich bei Rosa zu entschuldigen. Jungfräulichkeit sei mindestens so erstrebenswert wie eine noch so christliche Ehe! Da dämmert es Anna, in welchen Fettnapf sie gerade getreten ist. Mit 16 soll Tante Rosa nämlich einem Jungpriester aus der entfernteren Verwandtschaft als „geistiges Bräutchen“ zugewidmet worden sein. Ob sie sich dabei ganz irdisch in den jungen Mann verliebt hat? Ob sie von ihm enttäuscht worden ist? Oder ist Rosas Männerfeindlichkeit einfach ein Schutzwall, den sie um ihr damaliges Keuschheitsgelübde gezogen hat? Was immer die Klatschmäuler in Umlauf brachten, Tante Rosa hüllte sich in Schweigen, bis man sie schließlich so akzeptierte, wie sie ist. Was den Herrn Weber Junior anlangt endet der Abend mit einem Waffenstillstand. Auf jeden Fall habe er sich bei ihnen vorzustellen, erklärt die Mutter, bevor über alles Weitere diskutiert werden kann.
Schon am darauffolgenden Sonntag kommt Johnny zu Kaffee und Kuchen ins „Stadthaus“. Korrekt wie immer mit Schlips und Anzug und einem Strauß Blumen für die Mutter und Konfekt für Tante Rosa. Diese lässt sich entschuldigen, genauer gesagt: sie bleibt einfach weg, und Mutter Agathe entschuldigt sie mit einer erfundenen Migräne. Johnny gibt sich charmant und das bleibt – sehr zu Annas Erleichterung – nicht ohne Eindruck. Man redet übers Wetter und andere unverfängliche Themen, bis Agathe Dobler den Scheinfrieden mit der Bemerkung beendet, dass ihre Tochter noch lange nicht reif sei für eine christliche Ehe. Anna wird rot und ruft beschwörend „Mama!“, und Magdalena kichert so sehr, dass sie sich verschluckt. Johnny fasst sich nach kurzer Verblüffung: „Verehrte Frau Dobler, von einer Heirat zwischen Anna und mir kann doch gar keine Rede sein. Wir haben es nett gefunden, dass wir uns nach Jahren wieder getroffen haben und wollen in Kontakt zu bleiben.“ Das ist nun auch nicht das, was Agathe Dobler hören will. Dann haben Sie also keinerlei ernsthafte Absichten?“, fragt sie scharf, und Anna wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen. Johnny rudert schnell ein Stück zurück. Das wollte er damit nicht sagen, aber erst einmal müsse man sich doch näher kennenlernen. Und darum sei er auch hier, um Annas Mutter um Vertrauen zu bitten. Er wolle ihr hiermit versichern, dass Anna, wie übrigens alle Damen, von ihm immer nur mit der größten Hochachtung behandelt werde. Die Rede verfehlt auch diesmal ihre Wirkung nicht, aber Frau Dobler ist noch nicht am Ende ihrer Befürchtungen. Wie er es denn mit der heiligen Kirche halte, fragt sie, Anna komme nämlich aus einem gottesfürchtigen Elternhaus. Da kann Johnny nur nicken. Auch er sei im Glauben aufgewachsen und könne sich nichts Anderes vorstellen. Mit einem ernsten Blick in Annas Augen gibt er seiner Aussage das nötige Gewicht, so dass Anna ihm spontan beispringt: am letzten Sonntag sei er sogar zweimal in der Kirche gewesen. Sie erwähnt natürlich nicht, warum. Er hatte gemeint, sie gehe ins Hochamt, und sie nahm an, er besuche die Elf- Uhr-Messe, wo sie sich schließlich auch gefunden hatten. Beim Abschied versucht Johnny, Frau Dobler die Hand zu küssen, was aber nicht so gut ankommt. Immerhin wird ihm der Umgang mit Anna nicht verboten. Aber oberstes Gebot bleibt die mütterliche Kontrolle. Was Tante Rosa später als einen „faulen Kompromiss“ bezeichnet.
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