Christine Meiering - Die Rosenlady und der Sekretär

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Alle vier Jahreszeiten mit Sonne, Regen, Schnee, Hagel und Sturm, Blühen, Wachsen und Vergehen, mit Vogelgezwitscher, allem voran dem lieblichen Nachtigallengesang; selbst Unscheinbarstes nimmt Lady Ethel in ihrer nächsten Umgebung wahr. Gebrechliche Glieder verwehren ihr das Verlassen ihres Landgutes in Norfolk; mit den ihr noch verbliebenen funktionsfähigen fünf Sinnen assimiliert sie Leben in seiner ganzen Vielfalt; Leben, das einige wenige vertraute Menschen ihr ins Haus tragen. Ihre größte Gartenliebe gilt der Königin der Blumen, der Vielzahl von Rosen, die sie noch mühsam hegt und pflegt. Als Witwe eines englischen Grafen erfährt sie eines ihrer letzten Lebensjahre zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Hoffen auf ein Wiedersehen mit ihrem geliebten Gatten in der jenseitigen Welt und dem Wunsch, auf Erden noch Wichtiges ordnen und erleben zu dürfen, um letztendlich alles, was sich nach seinem Tode hier unten ereignet hat, ihm dereinst in allen Einzelheiten mitteilen zu können. Eingebunden in Gottes Schöpfung, in Familie und geschlechtsübergreifender Geschlechterkette, im Einverständnis mit gesellschaftlich geformten Gegebenheiten erfährt sie sich weniger als handelndes Subjekt denn als eine vorrangig vom »Wir-Gefühl« geleitete Persönlichkeit. Ein altes überliefertes Möbel, ihr geliebter Sekretär aus der »regency-period« (1783 – 1834), offenbart ihr – zum letzten Mal? – Familienschätze wie Briefe, Tagebücher, Stammbäume, Karten, Fotos; kurzum führt sie der umfangreiche Inhalt ihres Sekretärs zurück in ihr erfülltes Leben, auch in das ihrer Ahnen, an dem sie vor allem ihre Lieblingsenkelin Adelaine Anteil nehmen lässt. Letztendlich ist sie dabei von der Hoffnung beseelt, dass das Familienerbe später von Generation zu Generation weitergegeben wird. Weit entfernt von ihrem Wunsch nach einer beschaulichen Zeit des Lebensrückblickes holen sie aktuelle Probleme ein, die sie als betagte Person so manches Mal an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen.

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Die Rosenlady und der Sekretär

Christine Meiering

DIE ROSENLADY UND DER SEKRETÄR

ENGELSDORFER VERLAG

LEIPZIG

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

PROLOG

Unseren betagten Schreibsekretär aus der Zeit der ‚regency period‘ vor Augen, malte ich mir seine mögliche Vorgeschichte in den farbigsten Bildern aus. Wenn dieses Möbelstück doch nur erzählen könnte! Nun, da es schwerlich möglich sein dürfte, dem guten Stück trotz allem guten Zuredens auch nur den kleinsten Ton zu entlocken, müssen wir schon die Schätze, die in seinem Inneren schlummern, selbst aufzuspüren versuchen, sofern sie von geschichtsbewussten Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte lang in Ehren gehalten worden sind.

Lebensgeschichten können spannend sein und über Raum und Zeit einer bestimmten Epoche Aufschluss geben. Während ich mir überlegte, dass in männerdominierten gesellschaftlichen Epochen vergangener Zeiten zumeist die ‚Herren der Schöpfung‘ diejenigen waren, die Weltgeschichte schrieben, überkam mich erstens der Wunsch darüber nachzudenken, wie sehr die im Hintergrund agierenden Ehefrauen das Walten ihrer Ehemänner mit beeinflusst haben könnten und zweitens, dass es diese Frauen mehr als verdienten, einmal ins besondere Blickfeld gerückt zu werden.

Elisabeth Heyking (1861 – 1925), geborene Gräfin Flemming, Enkelin von Bettina und Achim von Armin, war es geglückt, den Berühmtheitsgrad ihres Gatten, weit gereister deutscher Diplomat (1850 – 1915) noch zu übertreffen. In ihren Veröffentlichungen „Briefe, die ihn nicht erreichten“ gibt sie Zeugnis der deutschen Außenpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schildert darin das Leben höherer Gesellschaftskreisen in vier Kontinenten und erreicht mit ihren Tagebüchern (1903) sogar die 100. Auflage. In ihren Kairoer Zeiten machte das Diplomatenehepaar u. v. a. auch die Bekanntschaft mit Evelyn Lord Baring, I. Earl of Cromer, englischer Generalkonsul in Ägypten, und seiner Gemahlin Ethel, geb. Errington, um deren Lebensrückschau es in meiner Erzählung geht.

Weitgehend unbeachtet geblieben sind die Ehefrauen einflussreicher Männer in Staat und Gesellschaft. Repräsentationspflichten, perfektes Organisationstalent bei der Haushaltsführung und eine erstklassige Kindererziehung mit dem Ziel, den vielfältigen Erwartungen höherer Töchter gerecht zu werden, prägten diese Leben schlechthin. Wer hat je ein Augenmerk auf die ‚Frau an seiner Seite‘ gerichtet? Wer hat ihre ureigenen Bedürfnisse, Sorgen, Ängste, Opfer, aber auch Freuden überhaupt wahr- bzw. ernst genommen? Meine Erzählung basiert zum großen Teil auf geschichtlichen Tatsachen, wenngleich ich mir erlaubt habe, die literarische Freiheit zu nutzen, um die Erzählung auszuschmücken.

KAPITEL EINS

„Oh, wo bist du denn? Du mein neugieriges Poussiertüchlein!“

Zittrige Finger greifen hin und her, ein bisschen wahllos, weil das gewohnte Versteck, die Kragenfalte des blauen Samtgewandes, nicht auf Anhieb das Spitzentaschentuch freigibt.

„Oh, wie schamlos du doch bist! Bist mir nichts, dir nichts, ein ganzes Stückchen weiter nach unten gerutscht?“

Eine grau gelockte Haarsträhne sich aus der Stirn streichend, hockt die alte Dame in ihrem Ohrensessel, mit einem leicht anstößigem Lächeln auf den erdbeerroten Lippen; ein Lächeln, schwerelos wie Federn im Wind, unanstößig auf Etikette bedacht, genauso flüstert sie ihre Worte, während sie mit gespitztem Daumen und Zeigefinger noch ein wenig tiefer dorthin vordringt, wo neugierige Blicke von ihr gewöhnlich mit einem irritierenden Augenaufschlag quittiert werden. Sie lächelt gedankenversunken vor sich hin. Sofern es geliebte männliche Blicke gewesen waren, oh, ja, damals in grauen Vorzeiten, ja, tatsächlich musste ich einmal jung gewesen sein, da pflegte ich diese anzüglichen Betrachtungen mit einem halb herausfordernden, einem Viertel verschämten und einem ebensolchem Viertel Blick Zurechtweisung zu erwidern, denn Zucht, Ordnung und Anstand sprechen seit jeher für eine adäquate Kinderstube, damals wie heute, dessen ist sie sich gewiss! Aber jene Erinnerungen liegen fest in tiefste Seelengründe versenkt! Nur im Geheimen darf ein solch prickelnder Gedankensplitter mal ans Tageslicht dringen, um der alten Dame jetzt ein Lächeln zu entwinden, ein vieldeutiges, ein sicherlich jederzeit beherrsch- und kontrollierbares dazu!

Ja, jetzt hält sie es endlich in ihren Händen, ihr schneeweißes Spitzentüchlein, das sich zwischen den beiden hocherhobenen Hügeln sichtlich wohl gefühlt hat, denn ein Korsett bewirkt nun einmal, dass sich erschlaffte Körperformen in vollendeter Gestalt darzubieten vermögen. Ihre spitzen erdbeerfarbenen Fingernägel ergreifen das knittrige Tüchlein und fahren damit über eine ihrer Wangen, auf ehemals prallem Wangenleben waren eine Anzahl Furchen, eingegraben in einer Haut-Hängepartie seitlich der korrekten Lippenkonturlinie, ersichtlich. Gräflich verpackt wandert das flüchtig benetzte spitzige Etwas schließlich in einen ihrer samtenen Ärmelbunde; erst später nach einem Mehr oder Meer an Tränen – oder schweißtreibender Befeuchtung wird es an jene Stelle gelangen, wo es dereinst in seifiger Wäschelauge treibend, den Weg aller Naturgesetze gehen muss.

„Ach, du mein Poussiertüchlein!“

Wehmütig schaut sie auf das Ärmelversteck, als sie mit ihren Armen herumfuchtelt, um aus dem untersten Fach ihres Schreibsekretärs etwas herauszuangeln, etwas, was sie schon lange gesucht und bisher nicht auftreiben konnte.

„Mein Gott! Was suche ich überhaupt hier? Bei aller hektischen Kramerei in den Fächern des Schreibsekretärs war es ihr schon wieder entfallen, das Objekt ihrer Begierde. „Das Alter treibt so manchen Schabernack mit mir!“, resümiert die alte Lady kopfschüttelnd im Gespräch mit ihrer Wenigkeit. „Aber eigentlich darf ich alles andere als erzürnt sein, denn mein Oberstübchen spielt keineswegs schon so verrückt, dass ein Tadel gerechtfertigt erschiene.“

Das Ärmelversteck gerät erneut in ihr Blickfeld. „Ach, ja, mein Poussiertüchlein! Warst du damals nicht auch daran beteiligt gewesen, als …?“

Die alte Dame lächelt, diesmal kommt das Lächeln aus weiter Ferne, genauer gesagt, aus einem längst entschwundenen Jungbrunnenland. Jeder Nervenstrang, jeder kleinste Teil ihrer grauen Zellen, mögen sie mit einem noch so vornehmen lateinischen Namen wie ‚substantia grisea‘ behaftet sein, jede einzelne ihrer Körperzellen gerät in eine seltsame Wallung, in diesem besagten Moment, in dem sich ihr Altersgesicht glatt wie ein rosiger Kinderpopo präsentiert. Ein verklärtes Lächeln durchstreift ihr Gesicht …, ja, genauso wie ich damals staunte, als das schwere Plätteisen über das schneeweiße Tischtuch auf dem Küchentisch glitt und ein kleines blond gelocktes Mädchen diese kleine Wundermaschine bewunderte, damals in grauen Vorzeiten, als sich feste glatte Handballen um den hölzernen Griff krallten, damit kraftvolle erfolgversprechende glättende Bewegungen jedem kleinsten Stoffknitter zu Leibe rücken konnten. Meisterhaft gebügelt stellte es sich später für alle Speisenden als eine wahre Augenweide dar …, ja damals als die Küchenmamsell, unsere Dora, später unsere Erna, Blümchen- und Goldschüsseln mit dampfendem Inhalt auf dem blitzblanken schneeweißen Laken servierte. Und von wegen graue Vorzeiten! Rote Möhren, grüner Spinat, buttergelbe Kartoffeln und bräunlich-schwarzer Krustenbraten stachen auf dem schneeweißen Untergrund in jedermanns Auge! „Ach, ja … damals …! Seltsam, mein Spitzentüchlein, seltsam … eine Alte mit solcherlei Anwandlungen!“

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