Gret-Lisbeths Handy schnurrt schon wieder. Diesmal eine SMS. Sie beginnt zu tippen. Bernhard greift zur Gabel und nimmt seine Apfeltasche in Angriff. Schweigend folgen die andern seinem Beispiel.
„Früher hat es hier eine ganz passable Aprikosenwähe gegeben, heute ist alles Fabrikware“, bemerkt Franz mit vollem Mund.
Agnes nickt. Bernhard mustert die beiden amüsiert.
„Lang her, seit man euch das letzte Mal gesehen hat.“
„So lang auch wieder nicht“, mampft Franz. „Bei Papis Beerdigung.“
Bigi nickt: „Früher hat man sich noch bei den Hochzeiten gesehen. Inzwischen nur noch bei den Todesfällen“.
Franz stopft sich die nächste Ladung in den Mund.
„Klar. Wenn man zu den Hochzeiten nicht mehr eingeladen wird.“ Er fixiert Bernhard. „Wie oft warst du jetzt eigentlich schon unter der Haube?“
„Nicht jeder findet auf Anhieb die Richtige, so wie du.“
Agnes blickt mit einem vergrämten Seitenblick zum Gatten, dann zu Bernhard.
„So einfach ist es auch wieder nicht…“
Gret-Lisbeth lacht. Franz wird ärgerlich.
„Lach nur, wenn andere ihre Ehe noch ernst nehmen.“
„Ihr habt euch wirklich etwas rargemacht, in den letzten Jahren, Agnes“, bemerkt Bigi mit leichtem Vorwurf.
„Nach all dem, was passiert ist…“, seufzt Agnes.
„Was ist passiert?“ „Ach… reden wir von etwas Anderem…“
„Ich weiß, was du meinst, Agnes. Aber du bist nicht die einzige!“
Franz schüttelt den Kopf: „Scho falsch, Bigi! Von euch hat inzwischen jeder seine Schäfchen im Trockenen. Agnes hingegen ist immer zu kurz gekommen.“
Bigi sieht ihn erstaunt an.
„Wie meinst du das jetzt?“
Amüsiert lässt Gret-Lisbeth das Handy sinken.
„Redet er vom Geld oder von der Liebe?“
„Von beidem!“, fährt Franz Gret-Lisbeth an.
„Agnes hat immer den Kürzeren gezogen.“
„Und ich? Was ist mit mir?“, kräht Bigi.
Genervt zückt Bernhard seinen Terminkalender.
„Kommen wir bitte zur Sache. Wer übernimmt die Traueranzeigen? Wer den Pfarrer?“
„Moment mal!“, fährt Agnes hoch. „Du und Gret-Lisbeth durftet studieren. Ich musste ins Büro!“
Gret-Lisbeth klappt ihr Handy zu.
„Agnes! Das Studium haben wir uns schon selbst finanzieren müssen.“
Bigi lacht künstlich auf: „Selbst? Das habe ich aber anders in Erinnerung!“
Gret-Lisbeth greift ebenfalls zum Terminkalender.
„Vielleicht täuscht sie dich wieder einmal, deine Erinnerung. Aber reden wir jetzt bitte über die Beerdigung, ich muss weg.“
Bigi lässt sich nicht bremsen.
„Bei mir dasselbe in grün, Agnes! Ich musste als Stift zum Schneider Ulmer, obwohl die Lehrer sagten, für mich käme nur ein Designerstudium in Frage. Und wisst ihr warum! Weil Agnes und ich immer brav das gemacht haben, was Papi wollte. Wir waren ständig die Dummen …“
Bernhard verdreht die Augen.
„Wenn du das so siehst…“
„Genau so war es!“
Gret-Lisbeth platzt der Kragen: „Notorisch zu kurz gekommen! Klar! Und wer, Bigi, hat in den letzten Jahren eins nach dem andern abdisponiert? Die alte Standuhr, das Silberbesteck von Großmutter, usw.!“
„Was meint sie mit `abdisponiert`?“
Bigi sieht mit ihren blauen Augen in die Runde.
„Sie behauptet, du hast Einiges von zuhause mitlaufen lassen“, erklärt Franz und wird selbst misstrauisch. „Stimmt das etwa?!“
Bigi schnauft empört auf. „Was für eine Gemeinheit! Ich war die Einzige, die sich gekümmert hat, als beide so krank waren.“
„Bis sie ins Pflegeheim kamen. Dann hattest du keine Zeit mehr und ich durfte ran“, ergänzt Gret-Lisbeth.
Bernhard lacht: „Wahrscheinlich, weil‘s nichts mehr zum Kümmern gab.“
„Gret-Lisbeth, du solltest lieber den Mund halten, nachdem was du getan hast.“
Gespannte Neugier der andern, doch Bigi winkt ab. „Es macht unsere Mutter auch nicht wieder lebendig…“
Jetzt will man es natürlich erst recht wissen.
„Gut. Ich hätte es ja für mich behalten. Aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Gret-Lisbeth hat eine künstliche Ernährung abgelehnt und dafür gesorgt, dass Anna Morphium bekommt. Damit es schneller geht.“
Bigi beginnt zu schluchzen.
Gret-Lisbeth, einen Moment lang völlig überrumpelt, fasst sich schnell.
„Dass man eine alte, sterbende Frau nicht auch noch mit Magensonden traktiert, leuchtet eigentlich jedem ein, der einen Funken Menschlichkeit hat. Aber der geht dir offenbar ab.“
Frater Ursus, der bisher geschwiegen hat, steht auf.
„Dass ihr euch nicht schämt.“
Er wendet sich ab und will gehen. Franz hält ihn auf.
„Moment mal, Frater Schwager – du kannst dich nicht einfach abseilen bevor wir über dein Beizli gesprochen haben…“
„Was?“
„Du weißt genau, was ich meine: Den Landgasthof Jura Höhe.“
„Den gibt es schon lange nicht mehr.“
„Stimmt“, sagt Gret-Lisbeth, “weil du den Karren an die Wand gefahren hast!“
„Den Gasthof hat dir der Papi finanziert, nachdem du als Koch nix auf die Reihe gekriegt hast!“, präzisiert Bigi, froh, aus der Schusslinie zu kommen.
„Und alles von meinem Erbe!“
„Von unserem – wenn schon“, korrigiert Gret-Lisbeth.
„Wie immer: Ihr habt keinen blassen Schimmer.“
Urs wendet sich ab und geht.
„Du schuldest uns 200.000 Franken!“, kräht Bigi hinterher.
„Klarer Erbvorbezug! Vergiss nicht, wenigstens deinen Kaffee zu bezahlen!“, lacht Franz und schaut in die Runde, ob der Witz auch angekommen ist.
„Wenn der mit mir Schlitten fahren will, hat er sich aber geschnitten. Nochmals zu Agnes…“
Bernhard unterbricht: „Urs hat recht. Wir sollten uns wirklich schämen.“
Betretenes Schweigen. Bernhard greift zum dritten Mal nach seinem Terminplaner. „Wer übernimmt die Traueranzeigen?“
***
Am Abend sitzt Bernhard auf der weinumrankten Terrasse von Gret-Lisbeths altem Bauernhaus im Zürcher Oberland. Denkmalgeschützt ist es und aufs Feinste renoviert, wie es sich für die Chefberaterin der Invest Consulting Europe gehört. Seit einigen Jahren lebt sie hier allein mit einer älteren Hauswirtschafterin und den Hunden. Sie kann es sich leisten.
Bernhard genießt die Abendsonne und trinkt einen Clevner. Vor ihm ein altes Fotoalbum. Kleine Schwarz-Weiß-Fotos mit breitem gewellten Rand. Der Vierwaldstätter See, ein Schaufeldampfer vor der Bergkulisse. Strahlendes Föhnwetter. Anna, elegant mit Pumps, Schlapphut und hellem Sommerkleid posiert am Dampfschiffssteg in Luzern, neben ihr der dreijährige Bernhard, verdrossen in kurzen Hosen. „Sommer 1945 – Ausflug an den Vierwaldstättersee“ steht unter dem Bild mit ziselierter Schönschrift. Anna ist jung und lacht – so hat er seine Mutter nicht in Erinnerung. Aber hier ist sie eine hübsche, lebenslustige Frau. Er blättert weiter. Die Kinder kommen. Erst als entzückende Babys bei der Taufe, dann in Gruppenbildern: Eins neben dem andern, wie die Orgelpfeifen. Posen und Schnappschüsse, von Anna liebevoll betextet. „Bernhardli – ein herziger kleiner Lauser“, „Agnesli, wenn es von einem Englein träumt“, „Brigitli, Papis Schätzli!“, „Stürmisch ins Leben! Lisbethlis erste Schritte!“, „Ursli, unser Sonnenschein“.
Später beschränken sich die Texte auf Fakten: „Ferien in Lenzerheide, Sommer 1955“. Ein Familienbild an einem Felsblock, Anna lächelt verkniffen, einige Kinder grinsen, Bernhard schaut demonstrativ in die Luft. Er erinnert sich: kurz zuvor hatte Anna ihm eine Ohrfeige verpasst, weil er Grimassen schnitt und Johnny das Foto neu knipsen musste. Das kostet alles Geld. Annas Standardsatz. Dass Agnes mit dem Zeigefinger in der Nase bohrte, hatten sie übersehen. Der Finger wurde später wegretuschiert. Das kostete noch mehr Geld. Und sieht jetzt aus, als hätte das Kind eine Hasenscharte.
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