Auch wenn die letzte Erfüllung der Ehe vorbehalten ist, das Seelische, das Geistige und das Körperliche müssen trotzdem in der Liebe Schritt halten. Gefährlich sind nämlich nicht nur die „Versuchungen des Fleisches“, sondern auch der religiös motivierte, totale Verzicht! Der Sprung in die Hochzeitsnacht wird zu groß, und Probleme bei der körperlichen Erfüllung sind nicht mehr auszuschließen. Platonisch ja, aber mit Maß und Ziel! Dass ich in dieser Hinsicht sehr verantwortlich denke, kannst du mir glauben: ein anderes Mädchen hat mir früher keine Abwehrschlacht geliefert, ich hätte nur das kleine Wörtchen „ja“ sagen müssen, aber ich habe unerbittlich „nein“ gesagt … Was ich fast vergessen hätte: die Bremsen an Deinem Velo müssten unbedingt eingestellt werden. Das ist mir aufgefallen bei unserem Ausflug nach Maria Bildstein. Ich wollte es Dir noch sagen, aber leider sind wir ja dann nicht mehr dazu gekommen…
liebe Grüße, dein Johnny
PS: Du schreibst, es wäre wichtig, Enthaltsamkeit zu üben für die Ehe. Das habe ich nicht verstanden. Aber du wirst es mir sicher noch erklären…
Dazu kommt es allerdings nicht so bald. Am Tag vor Weihnachten: Glatteis auf dem Weg zum Erzbischof, Verleger Schmalzer kommt ins Rutschen, bricht das rechte Handgelenk und verstreckt einen Gesäßmuskel. Damit ist er hilflos wie ein Käfer in Rückenlage und ein temporärer Pflegefall. Johnny bekommt wieder einmal einen Brief, in dem viel von Opfer und Entsagung die Rede ist. Garniert mit dem kleinen Hoffnungsschimmer, dass Schmalzers Schwester sie spätestens im Januar ein Wochenende lang ablösen wird. Und dass Schmalzer ausdrücklich genehmigt hat, dass ihr „Verlobter“ (was Anna natürlich richtiggestellt hat) sie am Weihnachtstag anrufen darf.
Johnny, der jeden Tag mit der Einberufung zur Armee rechnen muss, beschließt, die Tage ohne Anna zum Skifahren zu nutzen und setzt sich in den Zug nach Davos. Die Pisten sind leer, die Bars ebenso, das Einzige was sich tummelt, sind ein paar hungrige Eichhörnchen im tiefverschneiten Hotelpark. Das Stammpublikum, die Deutschen und die Engländer, sind im Krieg, in den eisigen Weiten vor Moskau, an der Westfront und in der Luftschlacht um England. Und viele Schweizer stehen an den Grenzen, um die Heimat gegen Hitlers erwarteten Angriff zu verteidigen.
Johnny genießt den unberührten Pulverschnee an der Madrisa und am Parsenn. Leider ist dann das Tanzparkett im Palace Hotel fast ebenso leer wie die Abfahrten. In der übersichtlichen Schar von meist älteren Kurgästen sticht Johnny beim Tanztee eine gut aussehende Dame ins Auge. Es ist Madeleine, die gelangweilte Gattin eines Genfer Juweliers, die erfolglos auf ihren nachreisenden Mann wartet. Und da Johnny als Kunstturner selbstverständlich auch ein blendender Tänzer ist, kommt er der Dame schnell näher. Madeleine ist attraktiv und elegant, wenn auch schon über 40. Aber in diesen kargen Zeiten kann man genauso wenig wählerisch sein wie die Eichhörnchen im Park. Leider, oder wie man es betrachtet: Zum Glück, kommt dann doch noch der verspätete Gatte dazwischen. Am Telefon schildert Johnny Anna seine stillen Tage in Davos, verschweigt ihr nicht die nette Bekanntschaft mit der eleganten Madeleine, natürlich unter Betonung seiner eigenen Tugendhaftigkeit und ohne Madeleines Alter und Zivilstand zu erwähnen. Wie erwartet versetzt die Nachricht Anna in Eifersucht und Panik. Johnny verspricht, sich weiter zurückzuhalten und erhofft sich im Stillen eine etwas offenere Haltung ihm gegenüber beim nächsten Rendezvous.
Annas Abwehrkampf findet derweil unter dem Weihnachtsbaum in Schmalzers Wohnzimmer statt. Der Verleger liegt auf dem Sofa wie ein gefällter Baum und lässt sich bedienen. Mindestens dreimal am Tag verlangt er, dass sein „Rücken“ mit Ringelblumensalbe und Franzbranntwein massiert wird. Er grunzt dabei wie ein angeschossener Eber und führt Annas Hand an Stellen, die besonders schmerzen, aber nicht nur dort liegen, wo Dr. Hunziker die Zerrung diagnostiziert hat. Erst als Anna sich weigert, weiter zu massieren, weil das ihre Fachkenntnisse übersteigt und die alte Schwester Klärli vom bischöflichen Damenstift zu Hilfe ruft, bessert sich der Zustand des Patienten. Endlich wieder auf die Füße kommt Schmalzer am Nachweihnachtstag, als ein freundlicher älterer Herr in Schwarz vor der Tür steht. Es ist der Erzbischof persönlich, der seinem Verleger einen Krankenbesuch abstatten will. Anna macht ehrerbietig einen Knicks, küsst seinen Ring. Dann führt sie seine Eminenz in die gute Stube. Schmalzer erhebt sich ächzend, und Anna serviert Tee und Gebäck. Der Erzbischof erkundigt sich leutselig, woher sie komme und wer ihre Eltern seien und findet, dass es aber jetzt an der Zeit sei, dass sie endlich ihrer verehrten Frau Mutter und der Familie einen Festtagsbesuch abstatte, nachdem es dem geschätzten Herrn Schmalzer ja wieder deutlich bessergehe und Schwester Klärli weiter nach ihm schauen könne. Auch wenn Schmalzer schmerzlich das Gesicht verzieht und demonstrativ an seine Hinterbacke greift – das Wort des Erzbischofs ist natürlich Befehl, und schon am Abend sitzt Anna im Eilzug Richtung Huwyler. Auf der harten Holzbank im überhitzten Drittklasse-Abteil schreibt sie eine Karte nach Davos. Beim Umsteigen in Pfäffikon wirft sie sie in den Briefkasten am Postwaggon des Schnellzuges Richtung Landquart – Chur, in der Hoffnung, dass Johnny die gute Nachricht noch am gleichen Tag erhält.
Allein das Schicksal meint es schlecht. Ein Lawinenabgang blockiert die Rhätische Bahn bei Klosters, und so gelangt die frohe Botschaft erst zwei Tage später nach Davos. Johnny ruft sofort im Stadthaus an, doch Anna ist schon wieder am Aufbrechen.
Er trifft sie auf dem vereisten Perron am Umsteigebahnhof. Sie hat ihm zu Weihnachten ein paar Fäustlinge gestrickt, und Johnny schenkt ihr einen bunten Schal, den er an der Bahnhofstraße in Zürich gekauft hat. Anna, modischen Dingen eher abgeneigt, findet ihn zu auffällig, sagt aber nichts, um Johnny die Freude an seinem tollen Geschenk nicht zu verderben. Ein paar tiefe Blicke und zarte Küsse später fährt der Eilzug in einer Wolke aufgewirbelten Schnees davon, und Anna ist nur noch schemenhaft winkend hinter den Eisblumen des Fensters zu erkennen. So bleibt einiges, was zwischen den Liebenden besprochen werden sollte, unerwähnt.
Zuhause freuen sich August und Gret Weber über die vorzeitige Rückkehr ihres Sohnes. In Erwartung, endlich die künftige Schwiegertochter kennenzulernen, hat Gret einen Streuselkuchen gebacken. Der Kuchen muss ohne Anna verspeist werden.
Die zweite schlechte Nachricht liegt als Brief auf der Garderobe. Kompaniechef Oberst Saurer teilt in knappen Worten mit, dass die 7. Gebirgskompagnie im Zuge der Kriegsmobilmachung in zwei Wochen nach Flums einzurücken habe und Wachtmeister Johann Weber zwecks Vorbereitung einen Tag früher.
So sehr es beide hoffen – es wird nichts mehr mit einem Wiedersehen. Am Tag, als er in feldgrüner Uniform, mit Marschtornister und umgehängtem Karabiner der Kleinstadt den Rücken kehrt, weiß Anna nicht mehr, wo ihr der Kopf steht vor lauter Kochen, Putzen, Betten beziehen. Eine Konferenz der Missionsgesellschaften hat Schmalzers Gästezimmer gefüllt. Briefe, spät abends geschrieben, wenn ihr vor Erschöpfung die Augen zufallen, sind jetzt für Wochen das einzige Band zum Geliebten. Johnny geht es auch nicht besser: Bis die Quartierfrage für die Unteroffiziere geklärt ist, logiert er in Untermiete im ungeheizten Zimmer eines Bergbauern. Das sei nicht so schlimm, schreibt er Anna, weil er vor lauter Organisieren sowieso kaum ins Bett komme. Oder er übernachtet mit seinen Soldaten auf Nachtmärschen in einem selbstgegrabenen Schneeloch. Einmal – sie liegen tage- und nächtelang im Matsch, ohne etwas Warmes zu essen – kommt General Guisan, der Oberbefehlshaber und lobt ausdrücklich die gute Organisation. Anna ist stolz auf ihren Johnny. Wenn keine Nachtmärsche anstehen, sitzt er im Nebenzimmer eines Berggasthauses (natürlich auch ungeheizt) an einer Armee-Schreibmaschine (nicht so modern wie die eigene), tippt Einsatzpläne und organisiert Übungen und Manöver für Oberst Saurer. Oft macht er mit Kohlepapier zusätzliche Durchschläge und schickt sie Anna, damit sie noch mehr stolz sein kann. An der Wand in der Gaststube hängt zwar, wie überall in der Schweiz, das Plakat „Psst! Feind hört mit“, auf dem ein langer schwarzer Schatten drei Leute belauscht. Da fühlt Johnny sich aber nicht angesprochen. Anna ist schließlich vertrauenswürdig. Als ein anderer UO meint, dafür würde er „bei den Nazis an die Wand gestellt“, lacht Johnny nur und bildet sich etwas ein auf seine Tollkühnheit.
Читать дальше