Das schreibt er natürlich nicht, sondern nur, er könne sich vorstellen, wie gut ihr der rote Einteiler stehe.
Die kalte Dusche kommt postwendend. Sie glaube nicht, dass Rot zu ihr passe. Und schon gar nicht dieses. Mit „so etwas“ würde sie sich nie in die Öffentlichkeit begeben. Im Übrigen vermisse sie Johnny sehr und hoffe, dass sie das übernächste Wochenende frei bekomme.
Die Aussicht, dass Anna ihn besuchen will, tröstet Johnny über den etwas enttäuschenden Anfang des Briefes hinweg.
Am Samstagmorgen steht Anna freudestrahlend am Bahnhof, als Johnny in Uniform aus dem Waggon steigt. Den Tornister lässig über die eine, den Karabiner über die andere Schulter gehängt, das Käppi, gegen jedes Dienstreglement, schief und verwegen auf dem Kopf und im Mundwinkel den obligaten Glimmstängel. Johnny wie er leibt und lebt.
Beim Znüni mit Cervelat, Käse, St. Galler Bürli und einem Bier für Vater und Sohn, verarztet Gret Weber die Blasen an Johnnys Füssen, die er sich auf dem letzten Nachtmarsch geholt hat. August Weber schwört auf Formalin zur vorbeugenden Behandlung nicht nur der Füße. Er war im 1. Weltkrieg bei der Kavallerie und hat sich vor jedem langen Ritt Gesäß und Innenseiten der Schenkel damit eingerieben. Auch andere edle Teile. Anna versteht es erst, als Gret pikiert sagt, dass die anwesenden Damen es gar nicht so genau wissen wollen. Johnny und August lachen, Gret droht ironisch mit dem Finger, und Anna fühlt sich richtig wohl in der entspannten Atmosphäre bei den Webers.
Mit einem Ausflug auf den Säntis wird es dann am Sonntag leider nichts. Schneeschauer und Sturmböen gibt es bei den Gebirgsschützen mehr als genug und so folgt Johnny gern Annas Einladung ins Stadthaus. Erst spielen sie Schach. Tante Rosa hat diesmal keine Migräne und sitzt stickend am Fenster. Anna hat die Augen aufs Spielbrett gesenkt und schweigt. Später sitzen alle beim Tee. Auf Johnnys Charme-Attacken reagiert Tante Rosa wortkarg. Mama Dobler rührt unentwegt im Tee und bohrt nach den beruflichen Zukunftsperspektiven des jungen Mannes. Der zögert nicht, seine Karrierechancen im rosigsten Lichte darzustellen. Anna sitzt stumm und ziemlich verkrampft daneben und schenkt ihm hin und wieder ein scheues Lächeln. So fühlt sich denn Johnny ermutigt, auch mal Annas nähere Zukunft ins Gespräch zu bringen. Er könnte sich vorstellen, dass man sich vielleicht in zwei Monaten offiziell verlobt und ein halbes Jahr später heiratet. Tante Rosa lässt vor Schreck beinahe die Teekanne fallen. Mama Dobler zieht die Augenbrauen hoch und sieht über die Nickelbrille schweigend zu Anna. Diese wird rot, sagt schnell:
„Aber Johnny, das ist doch unmöglich!“
„Warum verzapft er dann so einen Schmarren!“ brummt Tante Rosa böse und verschwindet mit dem Geschirr in die Küche.
Johnny ist sprachlos. Mutter Dobler steht auch auf und meint, sie müsse sich für die Abendandacht fertigmachen. Und Anna wohl auch. Anna fragt Johnny mit etwas zu fröhlichem Piepsen, ob er auch mitgehe in die Andacht? Johnny, mit einem Kloß im Hals, bedauert. Er habe sich mit seinem Vater zum Sonntagsjass im „Rössli“ verabredet. Anna bringt ihn noch zur Haustür, gibt ihm dort einen schnellen Kuss und flüstert, dass Mutter und Tanta Rosa es nicht so gemeint hätten, es sei halt etwas plötzlich gekommen. Oben ruft die Mutter: „Anna, kommst du jetzt?“ „Jaa-a!“ Noch ein hastiges Küsschen, und schon ist sie enteilt.
Liebe Anna!
Wie immer ist mir unser Wiedersehen recht kurz vorgekommen. Diesmal besonders. Wir waren ja kaum für uns allein. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns fast ein wenig fremd waren, als wir uns bei deiner Mutter und Tante trafen. Was mich am meisten enttäuscht hat, war deine gegenteilige Stellungnahme, als ich im Begriff war, das Datum unserer Hochzeit in greifbare Nähe zu rücken. Dein „Unmöglich!“ hat mich veranlasst, wohl oder übel den Rückzug zu blasen. In jenem Moment glaubte ich wirklich, Du hast mich nicht mehr gern.
Lieber Johnny,
wie traurig ich bin, dass ich Dir weh getan habe. Aber ich konnte doch nicht anders. Ich habe bremsen müssen beim Hochzeitstermin, um meiner Mutter eine Peinlichkeit zu ersparen. Weißt Du, sie hätte sonst erklären müssen, dass sie für die Verlobung und Heirat ihrer Tochter kein Geld hat! Zum Beispiel für die Aussteuer. Du weißt doch, sie hat damals keine Pension bekommen, als mein Vater so jung starb. Er hatte nämlich keine Pensionsversicherung bekommen, weil er schon bei der Einstellung in den Schuldienst herzkrank war. Sie hat uns immer alleine durchbringen müssen. Und jetzt braucht Mama doch alles für die Ausbildung von Magdalena. Ach Johnny, wie sehr würde ich mich sonst auf die Hochzeit freuen! Je eher umso lieber. Ich könnte es gar nicht mehr abwarten. Und weißt Du, was das Schönste wäre? Wenn ich durch Dich ein Kindlein empfangen könnte, glaub mir, dann wäre ich wunschlos glücklich…
Liebe Anna!
schon wieder sind zehn Tage vergangen, seit wir uns letztes Mal gesehen haben. Der Dienst in den Flumser Bergen ist streng, viel Schreibarbeit, manchmal ein paar Tage und Nächte, die wir uns im Schnee um die kalten Ohren schlagen. Das Einzige, was mich tröstet, ist die Erinnerung an Dein liebes Lächeln, Deine warmen Augen, Dein feines (manchmal etwas zu streng) geknotetes Haar. Anna, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie oft ich Dein Foto sehnsüchtig betrachte, das wie ein Altarbild auf dem Nachttisch in meiner kalten, trostlosen Soldatenbude prangt. Und wie oft ich mir unsere künftige Wohnung ausmale, jeden Schrank, jeden Stuhl, Deine liebevoll genähten Vorhänge und unser Bett… Ich glaube, es müsste ein Himmelbett sein, groß genug für unsere unendliche Liebe und Zärtlichkeit. Das Bett, wo wir unser Kindlein zeugen werden (nicht sofort, aber vielleicht nach ein, zwei Jahren, wenn wir zwei uns richtig kennengelernt haben). Apropos Aussteuer: dass Du Deine liebe Mutter nicht in Verlegenheit bringen wolltest, ehrt Dich! Aber ich sehe in der Aussteuer keinen Hinderungsgrund, möglichst bald zu heiraten. So habe ich doch all die Jahre gespart und bin ohne weiteres in der Lage, dass ich unseren gemeinsamen Hausstand aus eigener Kraft finanziere. Vertrau mir, es wird alles so sein, wie wir es uns erträumen…
Lieber Johnny!
Wir dürfen nicht verzagen, ich bete jeden Tag zur Heiligen Jungfrau, dass wir uns bald wiedersehen! Herr Schmalzer ist in letzter Zeit ziemlich „hässig“. Sein gebrochener Arm und der Muskelriss an der Hüfte machen ihm immer noch zu schaffen. So lässt er denn seine schlechte Laune gern am Personal aus. Das bin hauptsächlich ich (die Putzfrau kommt nur zwei Mal die Woche und der Gärtner noch weniger). Aber ich lasse mich nicht niederdrücken und denke lieber an unsere gemeinsame Zukunft. Das mit der Aussteuer kann ich natürlich nicht annehmen. Ich glaube, Mama legt das Geld, das ich ihr jeden Monat schicke, sowieso für mich weg. Etwas ist also schon da, aber sicher nicht genug, dass wir schon in einem Jahr heiraten können. Wir müssen beten und Geduld haben, gell Johnny. Es gibt noch ein Opfer, das uns wahrscheinlich auferlegt wird. Herr Schmalzer hat gemeint, dass er mir im Sommer unmöglich zwei Wochen Ferien geben könne. Das ist leider die Zeit, wo die Fortbildungswochen für die Seminaristen stattfinden, die zum Teil bei uns wohnen. Das heißt, unser Haus ist voll! Du Armer, Du wolltest doch mit mir wandern, Velo fahren und schwimmen. Aber sei nicht zu traurig, ein paar Tage werde ich wohl noch zusammenkratzen und so machen wir dann halt Tagestouren zusammen, gell Johny! Lieb, wie Du Dir unsere Wohnung schon ausmalst. Das tue ich genauso! Hoffentlich haben wir zum Schluss dann nicht zwei völlig unterschiedliche Wohnungen!
Was mir nicht so gut gefällt, ist Dein Gedanke, dass wir mit dem Kindlein noch ein, zwei Jahre warten wollen. Ich weiß nicht, wie Du Dir das vorstellst – wir sind doch dann verheiratet und zusammen?? Aber wir können ja darüber reden, wenn wir uns wiedersehen. Und damit komme ich zur guten Nachricht: schon in zehn Tagen habe ich wieder drei Tage frei und komme nach Huwyler!
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