Nach ein paar Wochen plagt ihn ein heftiger Husten, und er fiebert. Oberst Saurer ist kein Unmensch und der Dienst in den Flumserbergen kein Russlandfeldzug, also schickt er den verschnupften Johnny für ein paar Tage in die Obhut seiner Mama, die schon völlig außer sich ist vor Sorgen. Zwei Tage später taucht dann auch Anna auf, macht sich ebenfalls schwere Gedanken. Johnnys Glück kennt keine Grenzen. Endlich kommt es bei Webers zum gemeinsamen Kuchen, diesmal ein gedeckter Apfel. Mutter Gret ist sehr angetan von ihrer künftigen Schwiegertochter, und Vater August mustert wohlgefällig ihre schlanke Gestalt. Am Abend nach dem Kuchenessen ist Johnny wieder soweit hergestellt, dass er einen Spaziergang an den Weiher riskieren kann, auch wenn Mutter Gret schwerste Bedenken hat. Auf der alten Bank wird nachgeholt, was man so schmerzlich vermisst hat. Nur als eine Hand unter ihrem Mantel den Busen streichelt, versteift sich Anna. Aber Johnny tut, als wäre nichts und plaudert gut gelaunt weiter. Sie holt ihr Haushaltsbuch aus der Tasche und bittet um seine Hilfe. Es geht um ihre Buchhaltung. Wie erwartet zieht er seine Hand sofort aus ihrem Mantel und greift nach dem Schulheft. Obwohl es nur wenige Posten sind – Anna lebt bescheiden und schickt das meiste Geld, das sie verdient, ihrer Mutter – stimmt das, was sich noch im Portemonnaie befindet, nicht mit der Abrechnung überein. Addiert sei es richtig, wahrscheinlich habe sie vergessen, eine Ausgabe aufzuschreiben. Johnny wiegt nachdenklich den Kopf: Beim Buchhalten müsse man unglaublich präzise sein. Anna verspricht Besserung und gesteht, dass sie auch das Buch „Bilanzkunde und Bilanzrecht“ nicht verstanden hat. Johnny lacht. Das Buch habe er ihr nur gegeben, damit sie eine Ahnung bekomme, womit er sich so herumschlagen müsse im Büro.
„Du bekommst eine dumme Frau!“, meint Anna, „aber ich bin dir dankbar, dass du nicht aufgibst.“
„Du bist nicht dumm!“, widerspricht Johnny, „du kannst dafür anderes besser als ich!“
Was genau, fällt ihm im Moment auch nicht ein. So nimmt er sie in den Arm und küsst sie. Dabei versucht er seine Hand wieder in den Mantel zu schieben. Diesmal drückt sie sie sanft weg, und Johnny lässt es dabei bewenden. Auf dem Rückweg spricht er zum ersten Mal das Thema Verlobung und Heirat an. Er schlägt vor, an ihrem Namenstag Verlobung zu feiern und drei Monate später zu heiraten. Anna erschrickt. Bekommt ganz weiche Knie. Etwas in ihr schreit JA! Endlich diesem Quälgeist Schmalzer entkommen, endlich frei sein! Aber gleichzeitig öffnet sich ein tiefer, gefährlicher Abgrund: Ehe… körperliche Liebe… Versagen… Enttäuschung. Ob sie es je einem Mann recht machen kann? Sie ist doch völlig ahnungslos! Dann jubelt es wieder: Eine eigene Wohnung! Ein gemeinsames Nest! Kinder! Und dann wie eine schwarze Wolke: Was werden Mama und Tante Rosa dazu sagen? Und meine Aussteuer? Ich kann doch gar nicht heiraten. Ich habe keine Aussteuer! Johnny ist enttäuscht über ihr langes Schweigen. Freust du dich nicht? Willst du mich überhaupt heiraten? Doch, doch. Natürlich freut sie sich riesig. Aber es ist so plötzlich. Sie will darüber nachdenken. Sie bringt ihn mit einem Kuss zum Schweigen.
Inzwischen sind Agathe Dobler und Tante Rosa nervös geworden. Sie haben es nur ungern zugelassen, dass Anna bei den glaubensfernen Webers einkehrt. Jetzt wird es schon dunkel, und Anna ist noch nicht zurück! Tante Rosa redet wieder mal Tacheles und findet, es sei jetzt höchste Zeit für ein mütterliches Machtwort. Agathe greift widerwillig zum Telefon und ist fast froh, dass sich die protestantische Gret meldet und nicht der sündige August. Gret hingegen freut sich ehrlich, die Mutter von Anna kennenzulernen, auch wenn es nur am Telefon ist. Sie will eine Lobeshymne auf Anna anstimmen, aber Agathe unterbricht sie schroff und will wissen, wo das Kind bleibt. „Grad zur Tür hinaus“, lügt Gret, „Anna müsste in einer Viertelstunde zu Hause sein!“ „In fünf Minuten!“, verbessert Agathe, „soweit wohnen wir auch nicht auseinander!“ „Stimmt!“, bestätigt Gret Weber, „Da werden wir uns sicher bald einmal bei Kaffee und Kuchen richtig kennen lernen.“ Ob das noch rübergekommen ist? Agathe Dobler hat bereits aufgelegt.
***
Am Tag nach dem Rendezvous am Weiher geht Anna euphorisch gestimmt zum Bahnhof. Der Winter verabschiedet sich, es wird mehr so früh dunkel und wieder weht ein warmer Föhn von den Glarner Alpen. Am Bahnsteig trifft sie Pater Frido, der auf den gleichen Zug wartet. Er ist unterwegs, um Exerzitien in der Innerschweiz zu leiten. Anna erzählt ihm von ihren Ferienplänen mit Johnny: Bergwandern, Velo fahren. Schwimmen. Pater Frido lächelt und nickt. Schön. Die Natur, klar – der liebe Gott hat sie uns geschenkt, damit wir sie auch genießen. Und gesund sei es auch, das Bergwandern und das Velo fahren. Sogar das Schwimmen. Aber immer nur zu zweit? Ob sie denn schon mal über die Gefahren nachgedacht habe. Gerade in der freien Natur.
Leider muss Pater Frido an dieser Stelle aussteigen. Sie könne doch ihre Schwester mitnehmen oder eine Freundin, sagt er noch, bevor er das Abteil verlässt.
Anna bleibt nachdenklich zurück. Es war alles so einfach, vorher, als sie mit Johnny Pläne geschmiedet hat. Aber Pater Frido hat wahrscheinlich Recht. Es ist verzwickter, wenn man genau überlegt. Sie denkt an den Huwyler Weiher vor zwei Tagen. Hätte sie nicht ihr Haushaltsbuch dabeigehabt, wer weiß, wie es wieder geendet hätte. Zurück in ihrer Kammer, greift sie zu Pater Fridos Schrift „Das katholische Jungmädchen“ und dann zur Feder.
Lieber Johnny!
Es war so einzig schön, endlich wieder dein strahlendes Gesicht zu sehen, auch wenn dein Fieber mir große Sorgen macht. Ich bete, dass du schnell gesund wirst! Wie glücklich macht mich die Gewissheit, dass wir zusammengehören. Trotz der wunderschönen Ferienpläne für den Sommer, bin ich doch auf der langen Fahrt etwas ins Grübeln geraten. So schön ich mir alles vorstellen kann, trotzdem spüre ich, dass du über das hinausgehen möchtest, was mir geziemend und erlaubt erscheint. Und jedes Mal, wenn wir darüber gesprochen haben, wurde mir schmerzhaft klar, dass du nichts sehnlicher wünschst, als dass wir uns auch körperlich näherkommen. Was du dazu gesagt hast, stürzt mich in ein seelisches Chaos. In allen religiösen Schriften steht, dass körperliche Liebe außerhalb der Ehe in keiner Weise erlaubt sei und auch Zärtlichkeiten sich streng an diesen Grundsatz halten müssen. Oft bin ich todunglücklich, weil ich immer wieder auf den Zwiespalt zwischen Deiner Auffassung (die auf dem Naturgesetz aufbaut) und der Auffassung der Kirche stoße. Umso mehr erleichtert es mich, die Auffassung einer neutralen Stelle gefunden zu haben: „Wenn zwei das Glück in der Ehe haben wollen, dann müssen sie auf die Frage: Können wir uns beherrschen? mit einem entschiedenen Ja zu antworten vermögen!“ Gell Johnny – bombensicher wäre das Ja bei uns nicht, aber es muss es werden, indem wir jetzt immer so zueinander sein wollen, dass wir uns nie schämen müssen, in keinem Augenblick, auch wenn unsere Eltern uns sehen könnten…
Johnny, inzwischen an derlei Skrupel schon fast gewöhnt, beschließt, Anna mit ein paar versöhnlichen Worten ruhig zu stellen. Im Übrigen vertraut er auf die Magie der anstehenden Ferien, der tollen Radwanderungen, der ausgelassenen Wasserspiele in kühlen Bergseen und dem Zauber der Sonnenuntergänge vor romantischen Berghütten. Er schickt Anna eine herausgerissene Seite aus dem Sommerkatalog von Jelmoli, auf der ein hübsches, langbeiniges Mannequin im knallroten Einteiler posierte. Er hatte den Katalog schon vor einem Jahr eingesteckt, als er in der Mittagspause durch das Kaufhaus flaniert war. Das hübsche Mannequin hatte es ihm angetan, und der Katalog landete in der Schublade mit der Armeepistole und dem Buch „Das Geschlechtsleben“, sicher vor Mamas neugierigen Blicken. Damals hatte er Anna noch nicht gekannt, muss man zu seiner Entlastung sagen. Aber jetzt bekommt der Badeanzug einen neuen Inhalt. Johnnys Herz schlägt höher, wenn er sich vorstellt, wie Anna im nächsten Sommer neben ihm auf dem Floß im Weiher liegt (außer dem Floß ist leider die Badeanstalt genauso nach Geschlechtern getrennt wie die Pfarrkirche) und wie sich die anderen Burschen den Hals nach ihr verrenken werden.
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