Rania wählt den Plural der ersten Person in ihrer Rede. Während ich darüber zu sinnieren beginne, wie sehr sie sich als Teil des Systems sieht, springt sie unvermittelt von der Mauer und läuft vor mir auf und ab.
„Wir haben einfach zu viele und zu große Probleme. Noch einmal. Bildung ist in unserem Land überall zuerst eine Frage des Geldes. Reiche ägyptische Familien können ihre Kinder und Jugendlichen auf ausländische Schulen schicken. Die bieten zumeist hochwertigen Unterricht auf fast internationalem Niveau an. Das kann sich aber nur die Elite des Landes leisten, oder besser gesagt die, die sich dafür halten.“
„Private Schulen also,“ bemerke ich und ringe mit einer nächsten Bemerkung, die helfen soll, sie ein wenig in ihrer zunehmenden Dynamik zu drosseln.
Doch Rania ist nicht mehr aufzuhalten. „Ja! Britische, amerikanische, deutsche und andere. Zweihundert solcher Schulen gibt es im Land. Und wenn du weißt, dass im Durchschnitt etwa tausend Schüler in jede dieser Schule gehen, also etwa zweihunderttausend, dann stehen diesen Schülern die große Mehrheit der anderen gegenüber. Mehr als zwanzig Millionen ägyptische Kinder und Jugendliche nämlich besuchen die öffentlichen Schulen. Und jeden Tag werden es mehr. Immer mehr. Verstehst du?“
Ich erlebe eine Frau, die in ihrem Engagement derart aufgeht, als hatte sie der Präsident empfangen, um von ihr aus erster Quelle zu hören, was sie, losgelassen von allen Hemmungen, von dem ägyptischen Bildungssystem hält.
Noch engagierter schreitet sie fortan dozentenähnlich von links nach rechts, wieder zurück und wieder zu beiden Seiten, gestikuliert wild, bleibt stehen, um zentralen Aussagen noch mehr Wirkung verleihen zu wollen und kümmert sich nicht einen Moment um die Kids, die ihren Vortrag ob ihres ungewohnten Benehmens bisweilen irritiert verfolgen. „Nehmen wir die ägyptischen Lehrer. Sie sind meistens schlecht bezahlt und ausgebildet. Sie verdienen alle gleich, unabhängig von ihrem Können oder von ihrem Engagement. Das macht keinem Spaß. Die, die gut sind, geben Privatunterricht und fehlen somit den öffentlichen Schulen. Genauso wie die Schüler, die von ihnen unterrichtet werden. Das bedeutet, dass es wieder Unterschiede gibt. Wieder gewährleistet Geld eine bessere Bildung und damit bessere Chancen. Dann. Es ist gleich, wie viel Geld die Regierung im Budget für Bildung hat. Nie ist es genug. Jedes Jahr werden zum Beispiel aus dem gesamten Bildungsetat fünfundachtzig Prozent allein für Gehälter ausgegeben. Damit kommen wir zu einem anderen großen Problem. Zum Zustand und der Ausstattung der Schulen. Viele Gebäude sind baufällig, viele sind so ruiniert, dass man Angst haben muss, sich darin zu bewegen. Und manchmal habe ich nicht einmal mehr ein Stück Kreide, um etwas an die Tafel zu schreiben.“
Die kleine Habir steht überraschend vor uns und schaut mit großen Augen auf Rania.
Rania hat ihre Besorgnis entdeckt und ihre Darstellung, die mehr und mehr zur Wutrede geraten war, jäh beendet. „Ist schon gut, Habir! Geh wieder spielen, ja?“
„Wenn mein Papa so laut redet, dann kriegt Mama immer Schläge,“ bemerkt die Kleine.
Als Rania ihre Worte übersetzt hatte, schreit in mir augenblicklich Entsetzen auf. Sie hat nur noch ein paar Jahre, denke ich und verfolge, wie sie davon hüpft. Dann würde ihr Vater sie verheiraten, damit sie aus dem Haus ist, damit sie nichts mehr kostet, damit sie Kinder gebärt, damit auch sie die ganze Familie unterstützen kann. Für diese Zukunft braucht sie wirklich kein Abitur.
„Sorry,“ setzt Rania ein, als wir lange genug über das Elend des Mädchens geschwiegen hatten. „Ich weiß auch nicht. Manchmal gehen eben die Esel mit mir durch.“
Ich kann nicht anders. Ich muss augenblicklich laut lachen, was sie stutzig macht, erst recht, als ich mich wieder beruhigt habe und zu erklären versuche, dass es Pferde sind, die einen in diesem Sprichwort im Zustand eines Temperamentsausbruches davontragen, ohne dass man das will.
„Wie auch immer,“ meint Rania. Sie hat ihre Fassung zurück, jene souveräne Art, die dennoch so leicht zu reizen ist, wenn es um die Ungerechtigkeiten und Chancengleichheiten der offiziellen Bildungspolitik geht. Sie beginnt von ihrem Schulalltag zu berichten, davon dass jeden Tag bis zu fünfzig Schüler in ihrem Unterricht sitzen. Wenn alle gesund und da sind. Ihre Frage, ob ich mir vorstellen kann, was das bedeutet, bejahe ich zunächst wortlos. Erst als ich darüber nachdenke, während sie berichtet, womit sie an diesem Vormittag zu kämpfen hatte, rutscht eine Ahnung nach der anderen tatsächlich in mein Bewusstsein.
Fünfzig Zehnjährige, fünfzigmal Unerzogenheit und Wildheit. Zusammengepfercht. Fünfzig Launen, fünfzigmal Chaos. Fünfzigmal fünfzig Zurechtweisungen. Fünfzigmal staatlich verordnete Präsenz, fünfzig Überlebenskämpfe. Fünfzig Väter, die schlagen, fünfzig Mütter, die ertragen. Fünfzig Chancen am Vormittag, fünfzig verlorene Kindheiten danach. Fünfzig Begabungen, fünfzigmal Aussichtslosigkeit. Fünfzigmal Unwissenheit, fünfzig Leben in Schlichtheit. Fünfzigmal Unschuld, fünfzigmal Kritiklosigkeit. Hoffentlich. Hoffentlich kommt wenigstens eines dieser Kinder durch.
„Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung nicht lesen oder schreiben kann. Manche meinen, dass diese Zahl noch höher liegt. Mehr als die Hälfte davon sind Frauen und Mädchen.“
„Bitte?“
„Es gibt Millionen von Analphabeten im Land. Und mehr als die Hälfte davon sind Frauen und Mädchen,“ wiederholt Rania genauso betroffen wie eindringlich und mustert mich in einer Strenge, als hatte ich soeben versucht, ihr zum fünften Mal als Entschuldigung für nicht gemachte Hausaufgaben zu versichern, dass Oma gestorben war.
„Tut mir Leid. Ich hatte etwas anders im Kopf. Aber ja! Ich habe davon gelesen. Der Verdacht liegt wohl nahe, dass der, der sie alle gezählt hat, auf diese Zahlen kommen sollte.“
„Ja!“ stimmt sie mir zu. „Und ausländische Organisationen sagen, dass es noch mehr werden. Dass die ägyptische Regierung die Augen vor dem wahren Ausmaß verschließt. Ausländische Organisationen sagen auch, dass die Schulpolitik in diesem Land ein bildungspolitisches Desaster ist. Jetzt und erst recht für die kommenden Generationen.“ Rania begutachtet mich noch entschiedener. „Vor ein paar Wochen habe ich ein Interview mit unserem Präsidenten gesehen. Er meinte, dass das Land auf dem Weg ist. Dass es Prämissen geben muss. Dass wir nicht alle Probleme gleichzeitig lösen können.“
Hatte ich wieder nicht richtig zugehört, frage ich mich, weil ihr stechender Blick eine Schärfe annimmt, der man unverzüglich entkommen möchte.
„Verstehst du? Ausländische Organisationen sagen das. Unsere Verantwortlichen schweigen. Die meisten Lehrer übrigens auch. Und warum schweigen sie? Warum schweigen alle? Weil sie sich deswegen schämen. Das ach so stolze Ägypten schämt sich. Und keiner ist da, der etwas verändert.“
Gerade, als ich ihr entgegnen will, dass sie hier ist, dass sie etwas tut, dass ihr Engagement hochgradig beeindruckend und Erfolg immer auch eine Frage des Maßstabs ist, entschuldigt sich Rania und klatscht in die Hände. Ich verfolge ihre Mahnungen an die Kinder, sich nicht noch weiter vom Gebäude zu entfernen, weil der Ball, der augenscheinlich zum dienlichsten aller Spielgeräte auserkoren worden war, über die Straße gekullert ist.
Rania setzt sich wieder neben mich auf die Mauer. „Alles zusammen gezählt nenne ich es die Spirale der Volksverdummung. Denn wer selbst keine Schule besucht hat, wer selbst kein Bewusstsein dafür hat, der wird auch wenig Wert darauf legen, dass seine Kinder eine gute Bildung bekommen. Eltern, die ihre Kinder einen Monat lang nicht in die Schule schicken, müssen eine Strafe zahlen. Normalerweise. Zehn ägyptische Pfund. Da ist doch klar, dass sie ihre Kinder viel lieber zur Arbeit schicken. Aber selbst diese zehn Pfund werden nur selten erhoben und auch gezahlt. Sie sollen demnächst tausend Pfund zahlen, so jedenfalls der Plan der Schulaufsicht. Weißt du, was dann passieren wird?“
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