Matthias Daum - Wer regiert die Schweiz?

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Ein Jahrhundert lang war die Schweiz das Land der Filzokratie: Wirtschaft, Militär, Bürgertum und Milizpolitik waren eng miteinander verbandelt. In den vergangenen Jahren aber hat eine stille Revolution das Land erfasst. Die alten Seilschaften sind tot, neue Akteure geben den Takt vor, kleine Interessengruppen ändern im Alleingang die Verfassung. Und so ist es höchste Zeit, eine alte Frage neu zu beantworten: Wer regiert die Schweiz? Drei renommierte Schweizer Journalisten werfen einen Blick hinter die Kulissen der Macht. Ihre Recherchen und Reportagen zeigen den Einfluss von Wirtschaft, Politik und Lobbys. Sie beleuchten die Rolle der Verwaltung und der Kantone, der Medien und des Auslands – und natürlich jene des Volkes. Eine umfassende Analyse der wirklich Mächtigen im Land, die Chancen und Gefahren für die Schweiz im 21. Jahrhundert benennt.

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Wer regiert die Schweiz - изображение 1 INHALT EINLEITUNG DIE WIRTSCHAFT DIE POLITIKER EIN TAG IM LEBEN VON - фото 2

INHALT

EINLEITUNG

DIE WIRTSCHAFT

DIE POLITIKER

EIN TAG IM LEBEN VON NATIONALRAT MÜLLER

DIE LOBBYS

DIE VERWALTUNG

DER BUNDESRAT

SCHULE DER DEMOKRATIE

DIE KANTONE

DIE MEDIEN

WER SONST NOCH ALLES DIE SCHWEIZ REGIEREN SOLL

DIE FRAUEN

DAS AUSLAND

WELCHER GEIST REGIERT DIE SCHWEIZ?

DAS VOLK

EINSICHTEN

BIBLIOGRAFIE

DANK

AUTOREN

EINLEITUNG

Wer regiert die Schweiz? Der Bundesrat: So lautet oft die spontane Antwort – schliesslich ist das die Landesregierung. Das Parlament: Das sagen diejenigen, die im Staatskundeunterricht aufgepasst haben, denn National- und Ständerat stehen über dem Bundesrat. Das Geld, spötteln viele, und sie tun das mit angewiderter Miene. Das Ausland, antworten andere, denen diese Vorstellung nicht passt, denn sie denken dabei entweder an die EU oder an die knallharte Interessen- und Überwachungspolitik der USA. Die Wirtschaft, glauben viele Linke. Das Volk! – mit Ausrufezeichen –, sagen viele Rechte. Es ist ihre trotzige Dauerbeschwörung, dass die Schweiz von alters her eine direkte Demokratie sei (was so nicht ganz stimmt) und dass dem Stimmbürger, der Stimmbürgerin immer das letzte Wort zustehen müsse.

Wer regiert die Schweiz? Was einer antwortet, besagt etwas darüber, wer er ist und was er denkt. Die Frage ist ein Lackmustest für die Gesinnung. Sucht man aber eine halbwegs präzise Auflösung des Rätsels, ohne ideologische Scheuklappen, so stösst man heute auf eine Maschine, deren Bestandteile sich ergänzen oder blockieren, und Kräfte, die sich aufheben oder unfreiwillig verstärken. Wer die Macht im Staat erfassen will, findet am Ende – alles und niemanden.

Wer regiert die Schweiz? Natürlich wurde diese Frage schon an zahllosen Tagungen, Podiumsdiskussionen und in politologischen Werken erörtert, mit interessanten Einsichten: Man kann den Einfluss von Parteien, Verbänden, Lobbygruppen, Einzelfiguren, bürokratischen Institutionen oder sozialen Schichten durchaus eingrenzen, vermessen oder kartografieren. In diesem Buch aber geht es darum, nach langer Zeit wieder einmal ein griffiges Gesamtbild zu zeichnen. Hans Tschäni, ein bekannter Inlandjournalist, veröffentlichte vor über einem Vierteljahrhundert einen Bestseller mit dem Titel «Wer regiert die Schweiz?». Darin beschrieb er 1983 ein Land, das von Lobbys, Verbänden und technokratischen «Experten» beherrscht wird. In dieser «Filzokratie» erschienen Volk und Parlament, eigentlich die legitimen Herrscher, als Gehilfen machtgieriger, grauer Strippenzieher. Das Buch fand enorme Beachtung, denn es zertrümmerte feste Vorstellungen, und als Warnruf vor einem wirtschaftlich-militärischbürokratischen Komplex traf es den Nerv der Zeit.

Doch heute mutet vieles davon antiquarisch an – und manche Einsichten wären inzwischen schlicht falsch. Das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Der alte Filz ist zerrieben, der Zeitgeist ist ein anderer. Heute leben wir in einem Staat, in dem Polit-Amateure fast im Alleingang die Verfassung ändern können – und zwar dergestalt, dass sich die Chefs von globalen Milliardenkonzernen darüber ärgern. Derweil gelten ausländische Institutionen, die man damals gar nicht erst beachtet hätte, als heimliche Mitherrscher. Offensichtlich erlebten wir in den letzten 30 Jahren einen dramatischen Wandel, eine stille Revolution, die das Gefüge des Staates und seiner inneren Kräfteverteilung gehörig umgepflügt hat.

Die Eidgenossenschaft ist offenbar reif für neue Einschätzungen. Wir fragen also: Wer regiert die Schweiz – hier und heute?

DIE WIRTSCHAFT

Wie eine Säule der Macht einbrach. Und damit Platz machte für neue Einflussreiche.

Sie bemühen sich, gefasst zu bleiben. Als die Justizministerin, der Aussenminister, der Innenminister und die Infrastrukturministerin am 9. Februar 2014 vor die Medien treten, geben sie sich so gelassen, wie es in dieser Lage nur irgend möglich ist. Die durchgestreckte Sitzhaltung, der freundliche Blick, die Sachlichkeit der Worte – all das verkündet: Nur kein Alarmismus! Vielleicht haben die Bundesrätinnen und Bundesräte noch jene Bilder und Aufnahmen vor Augen, die 22 Jahre zuvor entstanden waren. Bilder, auf denen ihre Vorgänger mit aufgeblasenen Backen an den Kameras vorbeigeblickt hatten; Aufnahmen, in denen die Regierungsmänner von einem «dimanche noir» redeten.

Damals, im Dezember 1992, bot der Bundesrat ein Gesamtbild kapitaler Ratlosigkeit, nachdem das Volk den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR abgelehnt hatte. Es war ein historischer Knall im kleinen Land.

Jetzt, am 9. Februar 2014, hat es eine Initiative angenommen, in der es vordergründig um «Masseneinwanderung» ging und hintergründig erneut um einen historischen Bruch.

«In Zukunft wird die Zuwanderung durch Bundesbern gesteuert und nicht durch die Wirtschaft», lautet einer der trockenen Sätze, mit denen Justizministerin Simonetta Sommaruga das Abstimmungsergebnis beurteilt. Damit spricht sie aus, dass die Bevölkerung nicht nur ihr Verhältnis zu Europa auf den Kopf gestellt hat, sondern auch das gewohnte Verhältnis zur Wirtschaft. Denn in der Schweizer Politik hatte seit über hundert Jahren eine Regel geherrscht: Im Zweifel gibt man lieber der Wirtschaft etwas mehr Macht – und Bundesbern etwas weniger. Kleinere Ausnahmen hatte es immer mal gegeben, aber im Februar 2014 fragt sich das Land plötzlich, ob diese Regel überhaupt noch gilt.

Die Wirtschaft: Seit der Bundesstaat im 19. Jahrhundert gegründet worden war, konnte sie fast immer ihre Sicht der Politik durchsetzen. Die Wirtschaft, das waren die Chefs und Besitzer von kleineren, mittleren und hauptsächlich grösseren Unternehmen. «Die Wirtschaft» hiess aber vor allem: die Schwergewichte aus Pharma-, Chemie-, Maschinen-, Nahrungsmittel- und Finanzindustrie, die sich gemeinsam mit Bauernvertretern, Militär und der 150 Jahre lang führenden Partei, der FDP, zu einer Achse der Macht verschmolzen hatten.

Diese Achse war in der Schweiz bekannt und anerkannt. Teils bewundernd, teils achselzuckend, teils schaudernd erzählte man Anekdoten wie die, dass der Chef des Wirtschaftsdachverbandes Vorort sein Büro im Bundeshaus West hatte. Oder dass Industriemanager die Rüstungsbeschaffungs-Kommissionen des Verteidigungsdepartements leiteten. Oder dass die Schweizer Delegation bei Handelsvertrags-Verhandlungen im Ausland von Exportindustriellen angeführt wurde – und nicht etwa von Beamten. Alles notabene Aspekte des Milizsystems helvetischer Art.

Gelenkt wurde in Hinterzimmern und in Nebensätzen

Die Vernetzung, gern Filz genannt, war mehrdimensional. Auf die Nationalratsstühle setzten sich in den 1970er-, 80er- und 90er-Jahren – erstens – traditionell auch Fabrikanten mit Namen wie Bühler, Ammann, Schmidheiny oder Villiger. Zweitens entsandten führende Konzerne eigene Spitzenmänner ins Parlament, wobei der Industriemanager Ulrich Bremi und der Versicherungschef Peter Spälti, beide FDP, über manches Jahr die höchstrangigen Beispiele waren. Drittens verstrebten fast alle grossen Konzerne ihren Verwaltungsrat mit Politikern: Bekannte Beispiele aus den 1990er-Jahren boten der Zuger Markus Kündig (Schweizerische Bankgesellschaft, Zürich-Versicherung, Clariant), der Tessiner Gianfranco Cotti (Schweizerische Kreditanstalt) oder die Zürcherin Vreni Spoerry (Nestlé, Swissair).

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