Wer als Gast in diesem Land lebt, fragt sich früher oder später, warum die Ägypter so wenig aus dem machen, was sie besitzen, warum seit Jahrzehnten jeder Tag aufs Neue eine Fortsetzung bereits gemachter Fehler ist. Vordergründig liegen in vielen Analysen die Gründe auf der Hand. Militär und Mächtige hielten und halten das Land unter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kontrolle. Zahlreiche Märkte und Unternehmensbereiche sind allein von wenigen Mächtigen besetzt, die die Grundwerte und Gestaltung einer freien und vor allem sozialen Marktwirtschaft als Gefahr für ihre Machtpositionen betrachten. Korruption und Vetternwirtschaft schüren zusätzlich die soziale Ungerechtigkeit gerade für die jungen Generationen auf ein gefährliches Maß. Der gigantische Bürokratismus eines aufgeblähten Verwaltungsapparats erschwert überdies jede Eigeninitiative. Und das öffentliche Bildungssystem für die, die es später einmal richten sollen, schult in einer Qualität, die ungenügend ist.
Das alles ist paradox und verursacht fassungsloses Kopfschütteln. Denn das Potential zu Wohlstand und gerechter Verteilung für alle wäre zweifelsfrei da, sind die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung durchaus günstig. Ägypten profitiert von seinem großen Binnenmarkt. Neunzig Millionen Konsumenten wollen befriedigt sein. Das Land liegt an der Schnittstelle des Landwegs von Afrika nach Asien und des Seewegs von Europa durch den Suezkanal zum Indischen Ozean. Als größtes Land im Nahen Osten in zentraler geostrategischer Lage genießt Ägypten durchaus zu seinem Vorteil die Aufmerksamkeit der Weltmächte. Mit den wichtigsten Märkten, Europa und Nordamerika, bestehen Handelsabkommen. Das Land besitzt dazu nennenswerte Energiequellen. Während Erdöl- und Erdgasvorkommen schwinden, stehen Wasserkraft, Wind- und Sonnenenergie nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Selbst der Tourismussektor ist noch lange nicht ausgeschöpft.
Klar. Mit allen Unruhen, die das Land in der Vergangenheit erfahren hat, verbanden sich gleichfalls zum Teil enorme wirtschaftliche Einbußen. Investoren verließen fluchtartig ihre Standorte, andere kamen gar nicht erst. Noch immer zahlt die Regierung zu viele Subventionen, sind Arbeitslosigkeit und Armut unzumutbar zu hoch. Dabei. Viele Ägypter sind bereit. Sie wollen und können hart arbeiten. Wenn auch nicht immer und überall qualifiziert – die Menschen sind motiviert. Meistens jedenfalls. Vor allem Millionen junger Ägypter drängen danach, der sozialen Absturzspirale endlich zu entfliehen. Dazu. Wie es bei allen heutigen Krisen im Land zukünftig einmal werden soll, macht große Angst. Ägyptens Einwohnerzahl explodiert. Mit einem Bevölkerungswachstum von fast zwei Prozent wollen jedes Jahr etwa eineinhalb Millionen Menschen mehr versorgt werden.
Wie gesagt. Elitäre Cliquen, allen voran das Militär, stehen einem Wandel und vielen notwendigen Entwicklungen im Weg. Sie können und wollen einfach nicht teilen. Es wäre dennoch zu einfach, die Probleme des Landes allein darauf zu beschränken. Das Individuum selbst ist die größte aller Herausforderungen. Denn mehr als all diese volks- und marktwirtschaftlichen Missstände haben die Menschen in diesem Land erstrangig ein grundsätzliches Problem, eines mit sich selbst nämlich, eines mit ihrer Identität. Der gemeine Ägypter denkt zunächst allein an sein persönliches Fortkommen, dann an sich selbst und schließlich an seine Familie. Me, myself and I. Mach du doch etwas, ich komme so gerade eben klar. Die Ägypter wollen oder können keine Gemeinschaft sein. Attestierte man Staaten ein Krankheitsbild, leidet das Land an einer gesellschaftlichen Querschnittslähmung.
Quer durch alle Schichten herrscht ein Individualismus, der erschreckend ist. Selbstreflexion, Verantwortungsbereitschaft und Solidargemeinschaften gibt es nicht. An soziale Kompetenz und Intelligenz auch nur zu erinnern, beschert mehrheitlich allenfalls fragende Augenpaare. Der Narzissmus in diesem Land ist unerträglich. Und dabei ist gleichgültig, wie hoch Kontostände und Besitz sind. Allgemein anerkannte gesellschaftliche Normen schwirren nur vom Hörensagen umher, doch vielerorts denkt und handelt ein Ägypter, wenn er denn denkt, ohne sich auch nur einen Hauch um die Interessen und Bedürfnisse anderer um ihn herum zu scheren. Erkenntnisse wie diese sind leider weder arrogant noch rassistisch. Sie sind die Wahrheit.
Nicht zuletzt wegen dieser Defizite ist auch ihre kleine Revolte gescheitert, die des Arabischen Frühlings, die bezeichnenderweise nicht von den Ägyptern ausging. Denn wenn schon das Individuum keine Ahnung hat, was für ihn selbst geschrieben stehen muss in einer Vereinbarung mit dem Staat, bleibt jeder gemeinsame Protest ein kurzzeitiges Erwachen, ohne Bestand, ohne Strategie und ohne Ziel. Millionenfach sollte eine Rechnung aufgehen. Ich will Würde und Wohlstand, habe aber nicht erkannt, dass ich dafür auch etwas geben muss. Der Schritt zurück, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen – wer, wie die Ägypter, ständig nur im Hier und Jetzt verbringt, hat nichts gelernt, wird nichts lernen und kann damit auch nicht gestalten. Abgesehen davon sind regelmäßige Steuerbeiträge ein ausgesprochen nützlicher Beitrag für eine solche Solidargemeinschaft, die sich viele wünschen, nur keiner bezahlen will.
Es ist typisch für die Ägypter, sich ohne jede gesunde Wahrnehmung der Realitäten, ohne Bewusstsein, mit nahezu unbändigem und doch reichlich naivem Nationalpathos für etwas einsetzen, das vordringlich das eigene Wohl bringen soll. Was andere haben, will ich auch, was andere können, kann ich auch. Ich will Demokratie. Ich will sie morgen. Und wenn sie nicht spätestens übermorgen da ist, will ich sie nicht mehr. Mit gleicher Haltung und Begeisterung ist übrigens auch der ehemalige Präsident Morsi ins Amt gerutscht. Ja! Wir wollen die Muslimbrüder, wir wollen Veränderung, weg mit dem alten Regime. Aber die Scharia, eine Verschärfung der islamischen Rechtsvorschriften für das öffentliche Leben, die wollen wir nicht.
So passt es auch zu den Ägyptern, wie auch ihre enttäuschende Beteiligung an den letzten Parlamentswahlen gezeigt hat, dass sie nun beleidigt den Kopf in den Wüstensand stecken, weil sie nicht sofort und augenblicklich das bekommen haben, wonach ihnen war. Abgesehen davon, dass so ziemlich jeder Kandidat, der zur Wahl stand, regierungskonforme Parolen von sich gab. Nun ist es wieder da, das allgemeine Gefühl der Ohnmacht, die Starre einer namenlosen Zivilfeigheit, vielerorts verhüllt mit einer religiösen Lethargie des Islams, der Demut und Gehorsam predigt, weil der Mensch, durch Gott gelenkt, so der tiefe Glaube, nicht Schuld trägt an seinem Verhalten. Wenn Gott das alles nicht will, dann kann ich ja sowieso nichts machen.
Wieder liegen die Ägypter im Würgegriff der Reichen und Mächtigen. Wieder kontrolliert Generalität das Land. Und wieder wollen die nicht umverteilen. Einige wenige Akteure halten das Volk in Dummheit und Armut, weil sie, würden sie das verändern, selbst geknechtet würden. Es ist wohl so. Nur so macht der große Zuspruch in der ägyptischen Gesellschaft für Staatspräsident Sisi und seine Regierung Sinn. Er sorgt für Ruhe in den eigenen Reihen, damit der Rückzug ins Private, meistens auch ins Patriarchat, störungsfrei gelingen kann. An allem anderen kann ich ja sowieso nichts ändern. So werden die Ägypter gern regiert, wäre da nicht eben jene nationaltypische Emotion namens Zorn, die als letzte gesellschaftliche Größe unberechenbar bleibt.
Als Ende Oktober Zweitausendfünfzehn ein Airbus der russischen Airline MetroJet über dem Sinai abstürzte, hatte niemand der zweihundertvierundzwanzig zumeist russischen Passagiere und Besatzungsmitglieder überlebt. Auf dem Flug von Sharm el Scheikh nach St. Petersburg war an Bord eine Bombe explodiert. Die Barbaren des so genannten „Islamischen Staates“ hatten sich zu dem Terrorakt bekannt. Als unmittelbare Konsequenz stoppten zahlreiche internationale Airlines ihre Flüge auf die beliebte Ferienhalbinsel.
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