Die wesentlichen Ursachen der Konflikte in der ägyptischen Gesellschaft sind mitnichten, wie im Westen vielfach allzu stumpf und vorschnell geurteilt wird, der Islam oder ethnische Auseinandersetzungen. Der erbitterte Kampf hat durch und durch irdische Motive. Einige wenige Eliten des Landes unter dem Wohlwollen und Schutz Sisis verteidigen heute lediglich in anderen Kostümen ihre wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen. Skrupellos füllen sie die eigenen Taschen, bedienen und vergeuden sie in großem Umfang die Ressourcen des Landes und blockieren jede Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft. Sie verhindern den Aufbau nützlicher Infrastruktur und vernachlässigen sträflich die Schul- und Berufsausbildung jüngerer Generationen. Nichts anderes war auch unter Mubarak geschehen. Und die, die einst erstmals demokratisch gewählt worden waren, hätten sich ohne den Umsturz des Militärs ähnlich an dem Land vergangen.
In naiver Erwartung wurden sie im Westen ob dieses vermeintlichen Erfolgs nahezu gefeiert, ausgerechnet die Muslimbrüder, als erste Vorboten einer demokratischen Entwicklung im Land. In nahezu romantischer Verklärtheit galten sie als Heilsbringer westlicher Werte von Freiheit und Demokratie. Vergessen war die Wahrheit ihrer Geschichte, die Phasen ihrer Gewaltakte und blutigen Attentate, ihre Nähe zu bekannt terroristischen Organisationen in der Region und ihre Bereitschaft, Recht und Gesetz bereitwillig zu brechen, wenn es den eigenen Interessen dient.
Als sie mit Mohammed Morsi nach Jahrzehnten im Untergrund und der Illegalität mit ihrem Wahlsieg zweitausendzwölf den Präsidenten stellten, ließen aber auch sie, übrigens durch und durch undemokratisch, nichts unversucht, ihre gewonnene Macht allein auszuüben. Nur etwa ein Drittel der Ägypter hatte sie an die Macht gebracht. Und ein Dialog mit denen, die sie nicht gewählt hatten, unterblieb. Im Eiltempo vergingen sie sich an der Verfassung, um die Vision ihres islamischen Ägyptens endlich etablieren zu können. Ihrer Überforderung und Inkompetenzen mehr und mehr enttarnt, klebten sie selbst mit den einsetzenden Massenprotesten genauso gierig wie unbelehrbar an ihren Ämtern und ihrer Ideologie.
Unbestritten bleibt. Der Militärputsch Sisis hat eine erste Schulung in Demokratie allzu vorschnell und gegen legitimes Recht beendet. Mit ihm leben die Ägypter faktisch wieder in einer Diktatur, auch wenn sie das selbst anders empfinden mögen, politisch unerfahren wie sie sind. Die Gewalt aber, die nun von den Muslimbrüdern und ihren befreundeten Terrorbrigaden gegen die Regierung ausgeht, demaskiert sie ein weiteres Mal. Wer in zorniger Roheit und skrupellosem Eifer seine politischen Gegner derart zerbombt und mordet, verliert jedes Recht auf eine faire Auseinandersetzung. Ihre Rechtfertigung, bislang „nur“ Repräsentanten und Institutionen des Staates zu attackieren, ist allein billige Farce. Auch Soldaten haben Familie, auch Richter sind Menschen. Der Terror der Muslimbrüder offenbart einzig, wie wenig demokratieverträglich ein konservativer Islam der Marke Morsi tatsächlich gewesen wäre.
Millionen Ägypter waren urplötzlich erschrocken, was sie selbst angerichtet hatten. Weil sie nicht an der Wahl teilgenommen hatten, sollten sie nun unter den verschärften Regeln eines konservativen Islams leben. So wuchs der Protest nahezu täglich, war der Zorn der Massen erneut geweckt. Noch heute begeistern sich viele, dass Sisi es war, der Morsi und seine Anhänger davongejagt hatte. Der damalige General avancierte zum Retter der Nation.
Dass auch Sisi keine echte Demokratie will, und auf Gewalt mit Gewalt reagiert, nehmen die meisten Ägypter als notwendiges Übel hin. Er hat Ordnung geschaffen. Und die schließt alle ein, die sich nicht beugen wollen. Jetzt, da die Muslimbrüder weitestgehend ausgeschaltet sind, verfolgt er die säkularen Oppositionellen, sobald sie sein Regime zu kritisieren wagen. Viele Aktivisten von einst, die, die auf die Straßen stürmten, verschwinden noch heute spurlos. Nach Wochen tauchen sie auf, verhört, gefoltert und bedroht. Auch das kümmert nur wenige. Ägypten ist Folterland geworden, still und heimlich und doch so widerwärtig.
Besonders in den Wochen und Monaten vor dem 25. Januar Zweitausendsechzehn haben die staatlichen Repressionen gegenüber liberalen oder anders denkenden Kräften im Land ein Ausmaß erreicht, deren Härte und Unnachgiebigkeit nicht einmal aus der Mubarak-Ära bekannt waren. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und muss ein Muslimbruder sein, so die aktuelle Losung. Menschenrechtsorganisationen attestieren Sisi und seinen Dienern die größte Einschüchterungswelle gegen Dissidenten in der jüngeren Geschichte. Fast täglich werden Meldungen über durchsuchte und geschlossene Organisationen, inhaftierte Aktivisten, Blogger, Fotografen und Journalisten veröffentlicht. Ohne jeden Zweifel. Das Regime hat Angst.
Im Vorfeld des fünften Jahrestages der so genannten „Revolution“ soll jede kritische Stimme ausgeschaltet sein, die in der Lage ist anzustecken, Massen zu bewegen. Dass dieses diktatorische Vorgehen erneut für Unruhe und Unmut sorgt, belegen bereits die Webseiten sozialer Netzwerke. Der Widerstand in allen Schichten der Bevölkerung wird lauter. Wie einst. Und dann, eines Tages, ist er wieder da, der Zorn des Volkes, der aus Zorn erwachsen ist.
Noch, so die Betonung, hat sich unter vielen ehemaligen Rebellen und ihren Anhängern Verdrossenheit breit gebracht. Ernüchtert sind die, die einst so schwungvoll stürmten, die, die auf den Straßen der Städte voller Stolz für Gerechtigkeit kämpften, die, die eine Demokratie wollten, nur mit einer Ahnung von ihr im Kopf und doch so reich an Energie und Begeisterung. Längst schon gleichgültig sind die, die ihr Dasein meistern können, weil sie Geld haben oder ausgewandert sind, die, die nur müde abwiegeln, dem Individualismus frönen und selbstverliebt ihrer Wege gehen. Dazu all die Leisen und die Stillen, die, die nichts wissen, weil ihr Leben bislang keine Schule kannte, keine Lehrer, die ihre Talente und Visionen hätten wecken können, zusammen mit all den Armen, die ihr Schicksal lieber in die Hände ihres Gottes legen, weil der bittere Kampf um Leben Beistand braucht. Letztlich. Es ist so gekommen, wie es in der Geschichte der Menschheit immer gekommen war, wenn das Individuum keine Ahnung hatte, wie es mit dem Staat einen tauglichen Vertrag schließen konnte, und erst recht nicht wusste, welche weltlichen Kräfte im Hintergrund bereits ihre Stellungen bezogen hatten.
Bunt und schrill ging es damals zu, lautstark, energetisch und kämpferisch, getreu der ägyptischen Mentalität, die Demokratie jetzt sofort haben zu wollen, spätestens aber morgen, formvollendet und heilbringend, visionär gesichtet im Internet und deswegen vorgetragen von vornehmlich jungen und westlich orientierten Bürgern in den Städten des Landes. Vergessen hatten sie alle anderen, die Alten, die Massen an Gläubigen, die auf dem Land, die Ungebildeten und alle die, die noch weniger wussten. Und nichts war da, außer einem ungestümen Willen, kein Wissen, keine Erfahrung, keine neue politische Kultur, keine neuen Parteien, zu Koalitionen und Bündnissen bereit, keine Führungspersönlichkeiten, keine Strukturen, keine geeignete Verfassung, keine Gewaltenteilung und erst recht keine mündigen Bürger.
Und als nach den ersten freien Wahlen die Muslimbrüder in die Regierung traten, gingen wieder Hunderttausende auf die Barrikaden, noch erzürnter, noch enttäuschter, noch frustrierter, ausgerechnet die doch nicht zu wollen. Wieder zerrissen in zwei Lager, im Zorn bis aufs Blut gereizt, den Tod der Brüder und Schwestern im Kalkül, gemordet, verfolgt und vertrieben – erst das Militär konnte wieder Stabilität schaffen, mit noch mehr Gewalt, mit noch mehr Toten. Und so blieb das, was werden sollte, allenfalls ein Sturm im Wasserglas, regiert heute ein ehemaliger General das Land, ein Repräsentant des Militärs, das als Machtgarant genauso funktioniert wie der Islam.
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