Peter Gerdes
Zorn und Zärtlichkeit
Kriminalroman
Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals »Ostfriesische Krimitage«. Die Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.
Handlung und Personal dieses Romans sind erfunden. Allerdings basieren beide zum Teil auf historischen Ereignissen, Zeitzeugenberichten und Erzählungen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen und realen Personen sind also kaum zu vermeiden. Alle Namen – außer denen, die sowieso in den Geschichtsbüchern stehen – wurden jedoch verfremdet.
Einzelne Personen, die sich wiederzuerkennen glauben, sind ohnehin nicht gemeint. Sondern wir alle.
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Alle Rechte vorbehalten
(Originalausgabe erschienen 2011 im Leda-Verlag)
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © pasja1000-pixabay.com
ISBN 978-3-8392-6472-0
Für meine Eltern
»Nun guck dir bloß mal diese Sauerei an!« Heinz Ulferts blieb in der Kellertür stehen, stemmte die Arme in die Hüften und besah sich die ganze Bescherung. Dann steckte er sich erst mal eine an. »He, Justin«, rief er laut über die Schulter, mehr zur Seite als nach hinten, »komm ran, Junge!« Danach rührte er sich ein paar Züge lang nicht von der Stelle, als nähme ihn die Verarbeitung des Gesehenen dermaßen in Anspruch, dass an irgendeine Bewegung überhaupt nicht zu denken war.
Justin Dettmann näherte sich schlurfend, drängte sich an Ulferts vorbei, dessen massige Gestalt den Türrahmen fast ganz ausfüllte, und peilte unter halb geschlossenen Lidern hervor die Treppe entlang nach unten. »Boah!« Das war alles, was er über seine wie immer herabhängende Unterlippe brachte.
Ulferts schüttelte den Kopf. Sein strafend gemeinter Blick drückte vor allem Resignation aus. »Und? Wie konnte das passieren?«, fragte er, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Noch einmal sog er heftig an seiner Zigarette, so dass die Glut hell aufleuchtete und beängstigend schnell seinen verhornten Fingerkuppen zustrebte. Dann warf er die Kippe in den Keller. Es zischte, als die Glut in dem See erlosch, der sich unten gebildet hatte. Winzige, ringförmige Wellen leckten an der hölzernen Stiege.
»Bestimmt ein Meter Wasser«, brummte Ulferts und rammte Justin den Ellbogen zwischen die Rippen. »Los, hol die Tauchpumpe. Und vergiss den Schlauch nicht!«
Während sein Praktikant loszottelte, drehte der Klempnermeister erst einmal das Hauptventil ab. Sein Blick schweifte über die Baustelle. Alte Häuser machten grundsätzlich mehr Mühe als neue, stellte er zum wiederholten Male fest, und dieses hier war ein sehr altes Haus. Womöglich sogar eines der ältesten von ganz Leer. Dass es ausgerechnet an der Neuen Straße stand, war eine Ironie, die Ulferts gar nicht auffiel, war ihm diese Straße nahe beim Rathaus und der historischen Waage doch als Bestandteil der malerischen Altstadt seit Langem vertraut.
Ein Glanzstück dieser Altstadt war das Haus derzeit gerade nicht, sollte es aber wieder werden. Nach mehrjährigem Leerstand hatte es den Besitzer gewechselt, gerade noch rechtzeitig, um vor dem vollständigen Verfall gerettet zu werden. Hinter der imposanten Fassade jedoch verbargen sich Zustände, die jedem anständigen Handwerker die Haare zu Berge stehen ließen. Nicht nur, dass es in dem ganzen Gebäude keinen einzigen rechten Winkel gab. Der Giebel, der außen nicht einen einzigen Riss zeigte, sah von hinten so aus, als wäre er aus wild durcheinander vermauertem Schutt errichtet worden, und einige der Balken, die die Zwischendecken trugen, lagen direkt auf den Fensterstürzen auf. Ein Wunder, wie das all die Jahrhunderte lang halten konnte, dachte Heinz Ulferts, während er die Tauchpumpe an ihrem dick gummierten Kabel in den Keller hinabgleiten ließ und sich nach einer Steckdose umblickte.
»Wohin damit?«, fragte Justin und hielt das Schlauchende hoch.
Ulferts war darüber froh, denn ohne solche unterstützenden Gesten hätte er seinen Praktikanten kaum verstanden, so nuschelig sprach der Junge. Als hätte er statt einer Zunge einen Klumpen rohe Leber im Mund, dachte der Klempnermeister, wohlig schaudernd über diesen unappetitlichen Vergleich. »Ins Klo«, antwortete er.
»Hä?« Der schlacksige Junge glotzte verständnislos. Einen Moment lang hoben sich seine Augenlider fast vollständig, und seine Unterlippe hing noch etwas weiter herab als gewöhnlich. Dann kapierte er endlich und schlurfte los in Richtung Badezimmer.
Ulferts seufzte. Wirklich schön, dass die Arbeitslosenzahlen endlich sanken, aber dass er sich deswegen jetzt mit solchen Gestalten als Praktikanten, später womöglich sogar als Lehrlingen abgeben musste, war mehr als lästig. Und dabei war das sogar noch ein Realschüler! Nach außen hin lehnte Ulferts die Idee dieses durchgeknallten Wirtschaftsministers, immer noch mehr ausländische Fachkräfte ins Land zu holen, bei jeder Gelegenheit mit drastischen Worten ab. Im Stillen aber dachte er anders darüber, seit er versuchen musste, Jungen wie diesem Justin das Arbeiten beizubringen.
Endlich fand Ulferts eine Steckdose, eine altmodisch runde, hohe und schon ziemlich brüchige, zu der eine ebenfalls über Putz verlegte Leitung führte, und steckte den Stecker mit gemischten Gefühlen ein. Aber nirgendwo sprang eine Sicherung heraus, stattdessen begann es aus dem Keller zu schlürfen und aus dem Bad zu gurgeln. Die Pumpe arbeitete also. Dieses Badezimmer bereitete Ulferts ebenso viel Kopfzerbrechen wie der stumpfsinnige Junge. Natürlich nachträglich eingebaut, hatte das Bad einen schlauchartigen Grundriss, war völlig unzureichend beleuchtet und belüftet, die Leitungen waren kreuz und quer verlegt, und nach dem Bild, das sich dem Betrachter schon auf den ersten Blick bot, mochte der Klempnermeister gar nicht daran denken, wie es innerhalb der Wände und unter den Bodenfliesen aussah. Abreißen und neu bauen ist das einzig Vernünftige, dachte Ulferts. Aber das ging hier natürlich nicht, da waren der Denkmalschutz und die Leeraner Tourismusinteressen vor.
Wie das mit dem Keller passiert sein musste, darauf hatte sich Ulferts inzwischen seinen Reim gemacht. Bestimmt kein Frostschaden, trotz des zurückliegenden harten Winters. Immerhin war es schon Anfang Juni, da wäre ein Rohrbruch lange vorher aufgefallen. Nein, wahrscheinlicher war, dass die Wasserleitungen einfach von Grund auf marode und gleich an mehreren Stellen durchgegammelt waren, ein Prozess, der schleichend begann und sich dann langsam steigerte. Begünstigt natürlich durch den Leerstand des Gebäudes, sonst hätte sicher schon früher jemand die Wasserlecks bemerkt und Alarm geschlagen.
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