Erst jetzt begriff Stefan, worum es Mirja ging. »Nein, das geht natürlich nicht.«
»Danke, dass du meine Ansicht teilst«, sagte sie spöttisch. »Wieso haben die Handwerker sie so einfach hier im Haus rumlaufen und in aller Ruhe in unseren Sachen kramen lassen?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber es ist nun mal passiert, nun beruhige dich wieder.«
Mirja atmete tief durch. Sie deutete auf die Sanduhr. »Und was soll das jetzt? Die Kleine stellt sie auf den Boden, wie beim ersten Mal, und verschwindet dann. Das begreife ich nicht.« Dann ging sie zu der Sanduhr, nahm sie in die Hand, betrachtete sie kurz und stellte sie auf einen Klappstuhl.
Stefan sagte schmunzelnd: »Wenigstens ist es heute warm und wir brauchen uns keine Sorge um ihre Gesundheit zu machen.«
»Du bist ja so witzig, Steff, ich lache mich tot. Die Kleine macht sich einen Spaß daraus, uns zu erschrecken, und darüber kann ich überhaupt nicht lachen.«
»Es ist harmlos, sie tut doch nichts Schlimmes.«
»Sie hat das Haus nach der Sanduhr durchsucht, in unseren Sachen gewühlt, in unserem Eigentum. Das geht gar nicht!«
»Und? Was willst du jetzt machen? Die Polizei verständigen? Meine Güte, Mirja, selbstverständlich macht man das nicht, aber sie ist ein Kind, und kein Einbrecher. Mir jedenfalls ist ein Kinderstreich allemal lieber als irgendetwas Kriminelles.«
»Du willst mich nicht verstehen«, murmelte Mirja wütend und verließ das Haus.
Kopfschüttelnd sah Stefan ihr hinterher. Mirja hatte mal wieder ihre bockigen fünf Minuten, und dann gab es an sie kein rankommen. Er wandte sich wieder den Kartons zu und packte weiter aus.
Die erste Haustür, an der Mirja klingelte, war die des Hauses auf dem anliegenden Grundstück. Gerd und Doris Brüggemann stand auf dem Keramikschild. Mirja dachte daran, dass Stefan und sie sich noch nicht den neuen Nachbarn vorgestellt hatten, das hätte die Sache jetzt leichter gemacht. Kurz darauf öffnete eine ältere, elegant gekleidete Frau die Tür. Sie wirkte nicht im Geringsten misstrauisch.
»Frau Brüggemann?«, fragte Mirja gequält lächelnd.
»Ja.«
»Guten Tag! Ich hoffe, ich störe nicht. Ich bin Mirja Timmer, mein Mann und ich haben das Reethaus dort drüben gekauft.«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Oh. Tja, wir wollten uns schon längst mal vorgestellt haben, aber es hat sich leider bislang nicht ergeben. Die ganze Arbeit und so ... .. Wenn die Umbauten abgeschlossen sind, werden wir Sie und die anderen Nachbarn selbstverständlich auf ein Glas Sekt einladen. Wir freuen uns jetzt schon, alle kennen zu lernen.«
Die Frau nickte ausdruckslos.
»Ich habe auch nur eine kurze Frage, Frau Brüggemann: Bei uns war zweimal ein kleines Mädchen im Haus. Sie hat blonde, lockige Haare und ist etwa sechs oder sieben Jahre alt. Leider hat sie uns ihren Namen nicht genannt. Wir vermuten, dass sie in der Nachbarschaft wohnt. Wissen Sie vielleicht, wer sie ist?«
»Ein Mädchen? Blond?«
»Etwa so groß.« Mirja deutet die Höhe ihres Rippenbogens an.
»Das einzige kleine Mädchen, das in der unmittelbaren Nähe wohnt, hat schwarze Haare.«
»Verstehe. Haben Sie vielleicht dennoch eine Idee, wer das Mädchen sein könnte?«
»Ich müsste sie sehen. Aber auf Anhieb fällt mir niemand ein, nein.«
Weitere Fragen erübrigten sich. Die Frau sah Mirja mit einem Gesichtsausdruck an, der bedeutete Sonst noch was?
»Vielen Dank«, sagte Mirja und lächelte schmal, »bitte entschuldigen Sie die Störung. Wie gesagt: Wir werden Sie und Ihren Mann demnächst auf ein Gläschen einladen und würden uns freuen, wenn Sie beide kämen.«
»Das dürfte schwierig sein, mein Mann ist vor einem Jahr verstorben«, sagte die Frau und es klang, als habe Mirja das gefälligst zu wissen.
Na klasse, dachte Mirja, lass bloß kein Fettnäpfchen aus, Frau Timmer. Sie entschuldigte sich knapp, verabschiedete sich und beeilte sich, das Grundstück zu verlassen. An den anderen Haustüren zu klingeln und nach dem Mädchen zu fragen machte keinen Sinn mehr, zumal sie an den Worten der Brüggemann nicht zweifelte, dass das einzige Mädchen, das in der unmittelbaren Umgebung wohnte, nicht in Frage kam. Mirja kehrte in ihr Haus zurück, jedoch nicht, ohne sich immer wieder verstohlen nach dem Mädchen umzusehen.
»Sie wohnt nicht in der Straße«, sagte sie, als sie wieder im Speisesaal stand.
Stefan war gerade damit beschäftigt, die Kartons zu zerlegen. »Wer?«, fragte er gedankenverloren.
»Die Kleine, meine Güte. Sie wohnt hier nicht. Ich habe bei einer Nachbarin geklingelt. Sie sagt, in dieser Straße wohnt kein kleines blondes Mädchen.«
»Du hast bei den Nachbarn nach ihr gefragt? Wieso das denn?«
»Na, warum wohl? Es kann doch nicht sein, dass sie hier rein und raus spaziert und in unseren Sachen rumwühlt. Das müssen ihre Eltern wissen, das hier ist Privatbesitz und außerdem kann es für sowas mächtig Ärger geben. Die Kleine muss lernen, dass das nicht geht.«
»Schatz, nun ereifere dich doch nicht so. Du hast völlig Recht, aber nun lass es gut sein. Wenn wir die Kleine das nächste Mal sehen, reden wir mit ihr. Sie ist alt genug, das zu begreifen. Es gibt eine klare Ansage von uns, und dann ist das Thema erledigt. Da muss man nicht von Haustür zu Haustür rennen und sich vor den Nachbarn zum Affen machen.«
Einen Augenblick lang schwieg Mirja, dann sagte sie kleinlaut: »Ja, das stimmt schon. Die Kleine hat mich erschreckt und das bereits zum zweiten Mal, das hat mich genervt.« Sie nahm die Sanduhr in die Hand, betrachtete sie und murmelte: »Das nächste Mal werde ich sie fragen, was das Ganze soll.«
Zwei Abende vor der offiziellen Eröffnung gab es im Timmers für dreißig Gäste ein Pre-Cooking; eine geschlossene Veranstaltung mit Verwandten, Freunden und Bekannten sowie einigen Journalisten, deren Restaurant-Kritik einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der ersten Monate haben würde.
Das Timmers präsentierte sich als edel-gutbürgerliches Restaurant, das das Traditionelle pflegt und sich maßvoll dem Zeitgeist öffnet: Eine alte Stube mit einer an der Wand montierten Holzbank sowie Tischen und Stühlen im Landhausstil aus massivem Weichholz. Wie zufällig hingen einige schlichte Regale mit einer alten Kaffeemühle, Porzellangeschirr und getrockneten Blumensträußen an den Wänden. Alles wirkte stimmig. Rechts von der Zwischentür, hinter dem Hauseingang und über dem kleinen Kellerraum, befand sich der Tresen, von ihm abgetrennt die Garderobe, daneben war die Küche.
An diesem Abend gab es ein opulentes Büfett aus warmen und kalten Speisen; deftige norddeutsche Gerichte neben Kreationen wie Wildenten-Mousse oder Zanderfilet mit Nüssen und Koriander. Stefans ausgezeichneter Ruf in der Welt der Köche begründete sich auf der scheinbaren Leichtigkeit, mit der er den Aromen ein kreatives Zusammenspiel verlieh, und diesem Ruf wurde er auch heute wieder gerecht.
Es war bereits kurz nach drei Uhr. Die meisten Gäste waren längst gegangen, lediglich Mirja und ihre Freundin Denise waren noch da sowie Britt und Oliver. Stefan hatte seine Mitarbeiter vor anderthalb Stunden nach Hause geschickt, nachdem sie das nahezu restlos geleerte Büfett weggeräumt hatten. Alles weitere war Sache der Reinigungsfirma, die von nun an jeden Vormittag das Restaurant wieder herrichtete, mit Ausnahme des Montags, dem Tag, an dem das Timmers geschlossen blieb.
Mirja kam aus den Waschräumen und ging zu dem Tisch, an dem die anderen saßen. Sie ließ sich auf den freien Stuhl fallen und streifte sich mit den Füßen die Schuhe ab.
»Ich muss Elefantenfüße haben«, murmelte sie und gähnte ungeniert.
Britt sah ihre Schwester aus glasigen Augen an und sagte: »Das war toll heute Abend, Miri, ganz große Klasse.« Ihre Stimme kippte ein wenig, sie war angetrunken. »Ich halte jede Wette, dass dieser Laden der absolute Kracher wird. Ihr habt das toll hinbekommen, das Haus und das alles hier, das ist große Klasse, wirklich. Sogar Papa war angetan, er hat gesagt, es ist gelungen , und wenn Papa sagt, es ist gelungen, ist es so etwas wie ein Ritterschlag.« Sie beugte sich zu Stefan herüber, der neben ihr saß, und gab ihm schmatzend einen Kuss auf die Wange. Dann sagte sie: »Herzlichen Glückwunsch, mein liebster und einziger Schwager. Ich bin stolz auf dich. Wie fühlst du dich, jetzt, nachdem doch noch alles rechtzeitig fertig wurde und dieser Abend überstanden ist?«
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