»Hör auf«, kreischte Oliver. »Ihr Kopf ist kaputt, er ist kaputt.«
»Scheiße, Britt, komm schon, Baby, na komm!« brüllte Stefan, dann drehte er sich zu Mirja um und rief: »Ruf den Notarzt, mach schon!«
Doch Mirja reagierte nicht. Sie starrte ihre Schwester an und war außerstande, irgendetwas zu tun.
Stefan fasste es nicht, dass Mirja nichts tat. »Los, verdammt, wir brauchen den Scheiß-Notarzt!«, brüllte er und seine Stimme überschlug sich.
Mirja reagierte nicht, sie war wie gelähmt. Denise saß zusammengesackt auf ihrem Stuhl, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Stefan sah zu Oliver, der auf dem Boden saß und Britt seltsam fasziniert anstarrte.
»Scheiße, wieso unternimmt niemand was?«, schrie Stefan. Er rappelte sich hoch und rannte hinter den Tresen, griff zum Telefon und tippte hektisch die Notrufnummer ein.
Mittlerweile hatte sich Mirja aus der unsichtbaren Umklammerung gelöst. Auf allen vieren kroch sie zu ihrer Schwester, und sie hatte das Gefühl, als schob sie sich durch eine enge, dunkle Röhre. Sie hörte Stefan irgendetwas ins Telefon rufen, kurze Sätze und einzelne Worte, doch was immer er auch sagte, es klang wie aus weiter Ferne.
»Britt«, presste sie mit dünner Stimme hervor. Sie strich ihrer Schwester sanft über die Stirn und sah sie aus verwunderten Augen an. »Hörst du mich?«
Britt starrte an ihr vorbei an die Decke. Ihr Blick war leer. Mirja nahm Britts schlaffe Hand und küsste sie.
»Ich hätte sie bald verlassen«, sagte Oliver tonlos. »Es ging nicht mehr. Sie war dabei, mein Leben zu zerstören. Ich hätte bald was unternommen. Aber ich habe ihr den Tod nicht gewünscht, nein, das habe ich nicht.«
Mirja begann zu weinen. Stefan kam hinter dem Tresen hervor, das Telefon hielt er noch immer in der Hand. Er zitterte am ganzen Körper, bückte sich und betrachtete Britt. Sie war tot, zweifellos. Ihr Gesicht war seltsam leer, ganz so, als fehlte etwas. Die Seele ist entwichen, dachte Stefan mit schmerzendem Staunen. Er überwand sich und schloss Britts Augen.
»Wieso ist sie auf diese hässliche Weise gestorben?«, sagte Oliver monoton und sah Mirja fragend an. »Sie hätte anders sterben können. Schöner, meine ich. War sie so voller giftiger Gedanken, dass dies die Quittung ist?«
Stefan spürte die Hitze in sich aufsteigen. »Sei still, Arschloch. Noch ein Wort von dir und es scheppert.«
»Wer weiß, wozu es gut ist«, sagte Oliver träge. »Vielleicht ist es so für alle Beteiligten das Beste, vor allem für mich.«
Stefan fuhr herum. Er war rasend zornig, aber nicht völlig unkontrolliert. Etwas in ihm rief ihm zu, dass dies die passende und vermutlich niemals wiederkehrende Gelegenheit war, es diesem verdammten Mistkerl ein für alle Mal zu zeigen, und Stefan verspürte ein großes Verlangen, zuzuschlagen.
»Sie war nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hatte«, sagte Oliver vor sich hin. »Nichts an ihr war noch wie früher. Ein Schatten ihrer selbst, eine frustrierte Trinkerin, die ...«
Jetzt oder nie, befahl eine Stimme in Stefans Kopf, hau' dem Wichser ordentlich was aufs Maul!
»Scheiß Arschloch!«, zischte Stefan und schlug mit ganzer Wucht zu. Es ging zu schnell, als dass Oliver reagieren konnte. Das Telefon in Stefans Hand brach Olivers Jochbein und für einen Augenblick verschob sich Olivers gesamtes Gesicht. Und während dieses kurzen Momentes fühlte Stefan sich so gut wie schon lange nicht mehr.
♦
Mirja und Stefan waren in den frühen Morgenstunden zurück in ihre Wohnung gefahren. Nun saßen sie sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gegenüber, an die Armlehnen gelehnt, und trugen noch immer die Kleidung der vergangenen Nacht. Sie hingen ihren Gedanken nach und redeten nur wenig.
»Es ist bereits nach neun Uhr», sagte Stefan schließlich. »Geh ins Bett und versuche, ein wenig zu schlafen.«
Sie sah ihn aus trüben Augen an. »Ich kann nicht«, sagte sie mit matter Stimme.
»Versuche es. Wenn du dich erst einmal hingelegt hast, schläfst du bestimmt ein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann diese Bilder nicht vertreiben, sie sind immer da, ich bekomme sie einfach nicht weg. Es sah so furchtbar aus.« Mirja schlug die Hände aufs Gesicht und schluchzte.
Stefan wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte bereits alles mehrmals gesagt.
Sie sagte: »Papa tut mir so leid. Jetzt hat er nur noch mich. Hoffentlich übersteht er das.«
»Dein Vater ist ein zäher Bursche. Er wird es schaffen, wenn du ihm hilfst. Du musst die kommenden Wochen für ihn da sein.«
Sie nickte. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Oliver wird Ärger machen. Es würde mich nicht wundern, wenn er dich wegen Körperverletzung oder was auch immer verklagt. Das hättest du nicht tun sollen.«
»Ich weiß, aber sein Gequatsche hat mich wahnsinnig gemacht.« Und ich wollte es verdammt noch mal tun, fügte er in Gedanken an.
»Oliver stand unter Schock. Er wusste nicht, was er sagt.«
»Oh, das bezweifle ich.«
Einen Moment lang schwiegen beide, dann sagte Stefan: »Mirja ..., ich weiß, dass die Vorstellung daran alles andere als schön ist, vor allem jetzt, aber ... sie werden deine Schwester obduzieren, um sicherzugehen, dass sie keinem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Sie werden ihren Körper öffnen und sich alles genau ansehen, auch den Inhalt ihres Magens, alles. Ihnen wird nichts entgehen.«
»Ich weiß«, sagte sie leise. »Sie wollen herausfinden, woran Britt gestorben ist.«
»Und sie werden es herausfinden. Was machen wir, wenn sie ... sagen wir mal ... eine Vergiftung hatte?«
»Was sagst du da?«
»Es ist nicht schön, es so kurz nach ihrem ... so unmittelbar danach ... es zum Thema zu machen. Aber wenn ... nur gesetzt den Fall, dass sie etwas gegessen hat, was nicht ganz in Ordnung war, dann haben wir ein Problem. Oder vielmehr, ich habe ein Problem.«
»Wie kommst du darauf? Sie hat nichts Verdorbenes gegessen, denn niemandem sonst ist etwas geschehen.«
»Als Britt kollabierte, waren keine Gäste mehr da. Wissen wir, was in den vergangenen fünf, sechs Stunden geschehen ist? Bei den Leuten zu Hause?« Er setzte sich aufrecht hin. »Mirja, wenn man im Körper deiner Schwester tatsächlich etwas findet, das irgendwie mit verdorbenen Lebensmitteln zu tun hat oder auf mangelnde Hygiene in der Küche hindeutet, dann macht das Amt mein Restaurant dicht.«
»Hör auf«, sagte sie matt.
»Wenn das passiert, dann war es das gewesen. Dann ist der Traum ausgeträumt, noch bevor er richtig begonnen hat.«
»Das ist doch dummes Zeug, was du da redest.«
»Spekulationen und Gerüchte reichen schon aus. Wenn das in die Presse kommt, wird es stürmisch für uns.«
»Mit den Lebensmitteln wird alles in Ordnung gewesen sein. Britt ist an etwas anderem gestorben, ganz sicher.«
»Sie werden deine Schwester ganz genau unter die Lupe nehmen, den plötzlichen Tod eines jungen Menschen haken die nicht so einfach ab wie den eines Achtzigjährigen.«
»Ruhe jetzt!«, schrie Mirja plötzlich. Sie stand auf, sah Stefan in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an, und zischte: »Meine kleine Schwester ist vor wenigen Stunden vor meinen Augen gestorben. Weißt du, wie es ist, die eigene Schwester von einer Sekunde auf die andere sterben zu sehen? Es ist ... der blanke Horror, das Schlimmste, was ich bisher erleben musste. Und du kommst mir mit deiner ... bescheuerten Schwarzmalerei, deinen albernen Befürchtungen. Es ist nicht zu ertragen!«
»Aber wir dürfen doch die Augen nicht vor dem verschließen, was geschehen könnte.«
Sie schüttelte genervt den Kopf und sagte: »Mir reicht's! Ich lege mich hin, vielleicht kann ich ja doch schlafen.« Sie verließ den Raum.
Stefan sah ihr hinterher. Er konnte Mirjas Reaktion nachvollziehen, natürlich war das Ganze furchtbar für sie. Aber war es zu viel verlangt, dass sie bei aller Trauer auch von seinen Sorgen Notiz nahm? Schließlich steckte in diesem Haus, in seinem Restaurant, eine Menge Geld sowie viel Arbeit und Leidenschaft.
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