Thomas Sandoz - Ruhe sanft

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Er arbeitet als Gärtner im städtischen Friedhof. Man hat ihm den Bezirk mit den Kindergräbern zugeteilt. Mit Hingebung kümmert er sich um die Grabstätten, liebevoll pflegt er die Grünanlagen.
Er ist ein Gezeichneter. Auf der Spur dunkler Erinnerungen will er die Einsamkeit der eigenen Kindheit auslöschen, will ganz Familie sein. Être famille enfin. Dafür geht er mit den Frühverstorbenen eine geheime, innige Verbindung ein.
Er gibt ihnen Pflanzennamen, hört auf ihre Wünsche und erfüllt sie nach Kräften.
In der bevorstehenden Umstrukturierung des Friedhofs sieht der «Kindergärtner» eine Bedrohung seiner Schützlinge. Er gerät in inneren Aufruhr, unternimmt alles, um sie zu schützen.
Immer unangepasster wird sein Verhalten. Und er hat einen Plan: den Kauf eines abseits gelegenen, leerstehenden Häuschens mit Garten. Den Toten wird es am neuen Ort gut gehen.
2011 wurde dieses Buch von Thomas Sandoz mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.
Yves Raeber hat es ins Deutsche übersetzt.

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Thomas Sandoz

Ruhe sanft

verlag die brotsuppe

Thomas Sandoz Ruhe sanft Roman aus dem Französischen von Yves Raeber verlag - фото 1

Thomas Sandoz

Ruhe sanft

Roman

aus dem Französischen

von Yves Raeber

verlag die brotsuppe

Originaltitel: Même en terre

© 2012, Éditions Grasset

www.grasset.fr

Wir bedanken uns für die Unterstützung durch die Stadt Zürich, den Kanton Zürich und durch Pro Helvetia.

Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie - фото 2

Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt.

www.diebrotsuppe.ch

ebook ISBN 978-3-03867-043-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2021, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne

Umschlagbild: Ursi Anna Aeschbacher

Für Laure

Inhalt Primel Forsythie Hyazinthe Pfingstrose Anemone Lavendel Iris Aster - фото 3

Inhalt

Primel

Forsythie

Hyazinthe

Pfingstrose

Anemone

Lavendel

Iris

Aster

Begonie

Chrysantheme

Der Autor

Der Übersetzer

Primel

Sie kommt an einem Morgen im Februar. Er hat schon einiges durchgemacht, stürzt nach ihrer Ankunft in noch grössere Isolation. Sie liegt im unteren Teil des Friedhofs. Eine verfluchte, für Kinder reservierte Stätte ohne eigentliche Abgrenzung. In ihrem geographischen Mittelpunkt befinden sich ein zurzeit leeres Wasserbecken und ein vergitterter Mülleimer. Im Süden zeichnen grasüberwachsene Pflastersteine unvollendete Kreisbögen. Um die schmalen Grabstätten herum bilden karge Stauden und niedrige Hecken durchlässige Scheidewände.

Die Abdankung dauert und der Kummer versiegt. Noch steht die Familie um die Grube herum, während die Trauergemeinde allmählich auseinanderdriftet. Gruppenweise bewegen sich die Leute direkt auf die Parkzonen im Nordosten des Friedhofs zu oder verlieren sich im Labyrinth aus Büschen und Wegen.

Er hat sich nicht gewünscht, hier zu arbeiten. Die öffentlichen Stadtgärten, die er zwanzig Jahre lang gepflegt hat, kennt er auswendig. Eines Morgens war er überzählig. Noch fern vom Rentenalter, fand er sich in dieser stillen Nische am Stadtrand wieder. In den ersten drei Tagen blieb ihm der Atem weg. Ein Monat ist vergangen. Inzwischen gleicht er den hageren Buchen, die in diesem späten Winter wie Galgen in die Höhe ragen. Seine verwitterten Finger wirken wie nacktes Geäst.

Geraume Zeit später, als alle weg sind und die Totengräber ihre Aufgabe erledigt haben, nähert er sich dem dunklen Viereck. Kränze und Sträusse bedecken die Erde nur spärlich, diese Erde, die hier dunkler scheint als anderswo. Mit hängenden Armen flüstert er ein paar Willkommensworte. Dann zeigt er mit der offenen Hand auf kleine Erdhügel, die eine Narbe in den krokusübersäten Rasen zeichnen. Sie ist nicht allein, soll nicht mehr weinen. Er wird dafür sorgen.

Er zieht einen torfbefleckten Notizblock aus der Tasche. Sie wird für ihn Primel heissen. Sobald er kann, wird er zur Erinnerung an diesen eisigen Vormittag blühende Setzlinge pikieren. Wie bei den anderen Grabhügeln dieser Reihe wird er den Humus auf seine Art anreichern, ungeachtet aller Gepflogenheiten, Vorschriften und der als Vergesslichkeit daherkommenden Feigheit. Er wird zuerst Purpurglöckchen und Taglilien hinzufügen und, zu gegebener Zeit, Blaukissen und Veilchen. Er wird keine Vernachlässigung dulden.

Von einer grasbewachsenen Terrasse pfeift ihm ein hilfesuchender Arbeitskollege hinterher. Er stellt sich taub, verbietet sich, den Kopf in Richtung der angehäuften Holzspäne zu drehen, die auf weiches Erdgut verstreut werden sollen. Der andere insistiert. Er gibt nach, antwortet mit einer knappen Armbewegung. Die Begrüssungsrunde wird er etwas später zu Ende führen. Bevor er sich entfernt, verspricht er ihr ein weiteres Mal, dass nichts sie je trennen wird.

Gerade werden die Bauarbeiten an der Strasse entlang des Friedhofs wiederaufgenommen. Dröhnende Maschinen reissen den Asphalt auf. Bis zur Abenddämmerung wird eine knatternde Quadrille sein wehrloses kleines Reich drangsalieren. Schon hupen Automobilisten ihre Ungeduld laut heraus. Primel werden sie damit nicht wecken können. Ihre Eltern waren vielleicht bei Freunden zum Abendessen. Die Babysitterin sollte lediglich auf das Kind aufpassen. Als Beschäftigung etwas Schullektüre mit Werkerläuterungen aus der Stadtbibliothek. Plötzlich wird der fünfmonatige Nachkömmling unruhig, schluckt laut, quengelt in seinem nachtdunklen Zimmer. Die Teenagerin weiss nicht, wie sie damit umgehen soll, redet ihm gut zu, kitzelt ihn, drückt ihm die Stofftierchen ins Gesicht. Ohne Erfolg. Sie geht wieder ins Wohnzimmer, hält sich die Ohren zu, um sich besser konzentrieren zu können. Doch das Baby schreit immer lauter. Sie kommt ins Zimmer zurück, droht ihm, fasst es entnervt, schüttelt es. Das scheint zu wirken. Auf ihrem Plüschkätzchen zusammengerollt schläft die Kleine für immer ein.

Als ihn der Kollege wieder ziehen lässt, geht er hoch zu Feld B, um einen Weissdorn zu lichten, dem die Schneemassen arg zugesetzt haben. Dann räumt er sein Werkzeug in einen Gerätewagen und kehrt zum Holzgebäude zurück, das in der Flucht vom Eingangspavillon, Blumenladen und doppelwandigen Gewächshaus steht. Er protokolliert die erledigten Arbeiten in einem grossen Heft. Als sich über die Anlage allmählich die Dunkelheit ausbreitet, kehrt er zum unteren Sektor zurück, ignoriert Pfützen und Windböen. Er kniet nieder, um einen Steigbügel trocken zu reiben, der auf einem Block rohen Granits liegt. An Datum und Initiale nagt schon der Rost. Er steht wieder auf, schaut sich um. Auf manchen Gräbern liegen unzählige Stofftiere, Plastikfigürchen, farbige Kreisel. Fotos, Puppen, Anstecker. Diesen Reliquien macht das raue Klima zu schaffen. Sie müssen gepflegt werden, so wie man sich auch Tag für Tag vergewissern muss, dass die Spielsachen auf Griffhöhe seiner Schützlinge bleiben. Einiges steckt er in seine Tasche. Heute Abend wird er in seiner Einzimmerwohnung im elften Stock des Mietshauses, über den Küchentisch gebeugt, die Schätze aus dem Park mit Wattestäbchen flicken, kleben, reinigen.

Er geht immer später ins Bett. Ihm brennen die Augen, aber er bemüht sich, die Bastelarbeiten zu Ende zu bringen. Dann versucht er Kreuzworträtsel zu lösen, die er aus einem wöchentlichen Werbeblatt ausgeschnitten hat. Vergebens. Seine Angstzustände sind stärker als alle Müdigkeit. Missgebildete Kinder werfen sich in ihrem Pflegeheim gegen die Mauer, spiessen sich am Zaun ihres Spielplatzes auf, brechen sich im leeren Schwimmbecken das Genick. Mit pochenden Schläfen hört er dem Ticken seines Weckers zu, bis der Morgen graut. Die Zeit ist erstarrt.

Forsythie

Niemand hat je auf diesem fahlen Erdenfleck gestanden. Kein Gedenkstein, keinerlei Hinweis, nicht die Spur eines Lebenszeichens. Bis auf einen Aufkleber an der Spitze einer verbogenen Spalierstange. Er ist zwanzig Monate alt. Vielleicht hat ihn ein Schwall kochendes Wasser erwischt. Er schreit bis zur Bewusstlosigkeit. Die Mutter reagiert schwerfällig. Wie gelähmt steht sie im Badezimmer, ein Fläschchen Nagellack in der Hand. Es dämmert ihr, dass sie sich hinüberstürzen sollte. Keine Kraft. Natürlich hört sie die Schreie, denkt aber, dass es zu spät ist, dass es so besser ist. Endlich geht sie durch die Wohnung, kommt in die Küche. Das Kind liegt in einer heissen Lache. Schon breiten sich auf seiner Haut riesige Brandblasen aus, sein Blut wird schwarz. Die Milchflasche, die im Kochtopf schwamm, liegt zersplittert auf dem Boden. Um sich nicht zu schneiden, greift sie mit den Fingerspitzen vorsichtig nach einer Scherbe, legt sie auf eine Illustrierte. Sie trällert den Namen ihres Kleinen. Das Telefon ist im Flur. Sie geht hin, bricht auf einem Stuhl zusammen, sucht im Verzeichnis nach der Notfallnummer, braucht mehrere Anläufe. Wischt dann unsichtbare Flecken vom Spiegel, während sie auf den Notarzt wartet. Man bietet ihr Beruhigungspillen an, sie schluckt sie. Das Kind wird in einer Aluminiumdecke weggetragen. Sein Herz steht still. In den Korridoren des Mietblocks stehen schweigend die Nachbarn. Polizisten fordern sie auf, sich wieder in ihre Wohnungen zurückzuziehen, aber sie wollen sich nichts entgehen lassen.

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