Lepsius zuckt und ruckt auf der Bank so wild herum, daß seine verschleierten Nachbarinnen Angst bekommen und davongehen. Er bemerkt das gar nicht, denn nun erfüllt ihn die schwere Überzeugung ganz und gar: Es ist nichts mehr zu machen. Es gibt keine Hilfe mehr. Was der Priester Ter Haigasun in Yoghonoluk seit Wochen schon weiß, das überkommt nun auch den Pastor Johannes Lepsius: Es bleibt mir nur mehr eines übrig – zu beten.
Und unter diesem drängenden Festvolk, das an ihm mit Frauenlachen und Kindergekreisch vorbeilärmt, zur Janitscharenmusik, die von neuem losdrischt, während sein Kopf mit geschlossenen Augen ohnmächtig von einer Seite zur andern taumelt, faltet der Pastor oder glaubt wenigstens seine Hände zu falten, wie es sich gehört. Seine Seele aber hebt an zu sagen: Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name ...
Doch wie hat sich das Vaterunser verwandelt?! Jedes Wort ist ein Abgrund, den der Blick nicht ermessen kann. Schon bei dem Worte »unser« und »uns« erfaßt ihn ein Schwindel. Wer darf denn noch »uns« sagen, da Christus, der das »Wir« erst bindet und schafft, am dritten Tage gen Himmel fuhr? Ohne Ihn ist alles nur ein stinkender Scherben- und Knochenberg, hoch wie das halbe Universum. Lepsius muß an das Tagebuch seiner Mutter denken und an den Satz, den sie anläßlich seiner Taufe vor sechsundfünfzig Jahren niederschrieb: »Möchte sein Name Johannes mich stets daran erinnern, daß es meine große, heilige Aufgabe ist, ihn heranzubilden zu einem echten Johannes, zu einem solchen, der den Herrn recht lieb hat und der nachfolgt seinen Fußstapfen.« Ist er ein echter Johannes geworden? Ist er wirklich angefüllt bis oben von der Zuversicht, die man nicht nennen kann? Ach, diese Zuversicht droht zu zerbröckeln, wenn der Körper nachläßt. Die Zuckerkrankheit ist nun einmal da. Man muß mit den Speisen vorsichtig sein. Nichts Süßes vor allem, kein Brot und keine Kartoffeln. Vielleicht hat ihn Enver vor einer Verschärfung des Leidens dadurch bewahrt, daß er ihm die Reise nach Anatolien nicht erlaubte. Aber was will denn der Hotelportier vom Tokatlyan hier? Seit wann trägt er die Lammfellmütze des Offiziers? Schickt ihn Enver? Höflich überreicht ihm der Hotelportier den Teskeré fürs Innere. Dieser besteht aus einer Photographie Napoleons mit eigenhändiger Unterschrift. Und richtig, vor der Drehtür des Hotels wartet der Verschickungstransport schon auf ihn. Alle seine Freunde sind da, Davidian und die andern. Sie winken ihm heiter zu. Die Leute sehen ausgezeichnet aus, denkt der Pastor. Auch die schrecklichste Wirklichkeit hat immer noch etwas Versöhnendes, wenn man ihr ins Auge sieht. Am Ufer eines Flusses macht man unter wildüberhängenden Felsen halt. Sie haben sogar Zelte mit. Vielleicht gestattet Enver unterderhand diese oder jene Vergünstigung. Als sich alles hingelegt hat, tritt ein großer armenischer Mann in einem über und über mit Schlamm bespritzten Anzug auf ihn zu. Er spricht ein merkwürdiges, feierlich gebrochenes Deutsch: »Siehe, dieser reißende Strom ist der Euphrat und dies sind meine Kinder. Du aber lege deinen Körper von einem Ufer zum andern, damit meine Kinder eine Brücke haben!« Lepsius tut so, als wäre es ein Scherz, und versetzt: »Da müssen Sie und Ihre Kinder ein bißchen warten, bis ich noch etwas gewachsen bin.« Zugleich aber wächst er wirklich mit prachtvoller Schnelligkeit. Seine Hände und Füße rücken von ihm selbst unendlich in die Ferne ab. Jetzt könnte er die Forderung des armenischen Mannes mit wohliger Gelassenheit erfüllen. Es kommt aber nicht dazu, denn Johannes Lepsius verliert den Halt und wäre fast von der Bank gerutscht. »Es ist wirklich furchtbar«, sagt er das zweitemal an diesem Tage zu sich selbst. Doch er meint mehr den Durst damit, der ihn quält, als alles andere. Er rüttelt sich auf, läuft in den nächsten Ausschank und stürzt, ohne der ärztlichen Vorschriften zu achten, ein süßes Eisgetränk gierig hinunter. Mit dem Wohlgefühl strömen neue mutige Pläne in ihn ein. »Ich werde nicht lockerlassen«, lacht er zerstreut vor sich hin. Und dieses gedankenlose Lachen ist eine Kriegserklärung an Enver Pascha.
In derselben Minute übergibt der Privatsekretär Talaat Beys die bewußten Staatstelegramme, Aleppo, Alexandrette, Antiochia und die Küste betreffend, eigenhändig dem diensthabenden Vorstand des Post- und Telegrafenamtes.
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