Hartmut DyckKjeld und dieVerschwdes Baal
Ich danke meinem Neffen Paul für das Titelbild
Für Birte
Das kleine Ubierdorf lag in einer tiefen Talmulde, welche die überschaubare Ansammlung von Langhäusern vor den kalten Ostwinden schützte. In der Nähe des Weilers floss ein schmaler Bach, der die Dorfbewohner immer ausreichend mit frischem Trinkwasser versorgte und in dem die Kinder des Dorfes an den heißen Sommertagen planschten und durch das Wasser tobten. Aber jetzt war Winter und kleine, in der Sonne glitzernde Eiskristalle, sammelten sich an den in das Wasser ragenden Grasbüscheln. Teilweise war der kleine Bach vollkommen zugefroren, sodass die Dorfbewohner erst einmal die dicke Eisschicht durchbrechen mussten, um an das lebenswichtige Wasser zu kommen. Die Dorfbewohner sprachen bereits von einem Hungerwinter, denn die Vorräte des Herbstes waren nahezu aufgebraucht und man sehnte die ersten warmen Frühlingstage herbei. Heute war das kleine Dorf nahezu ausgestorben und nur die Alten, Kranken und Kinder sammelten sich um die Herdfeuer, an dem sie ihre karge Mahlzeit zu sich nahmen. Die erwachsenen Männer und Frauen des Dorfes hatten sich unter der jetzt im Winter kahlen Eiche versammelt, um über einen Mann zu urteilen, der Lebensmittel von der Gemeinschaft gestohlen hatte. Baldur, so hieß der Mann, hatte in seiner Verzweiflung eine kleine Menge Getreide, kaum mehr als eine winzige Schüssel voll, aus dem Vorratshaus genommen, um damit seiner todkranken Frau eine nahrhafte Mahlzeit zu kochen. Er war bei diesem Diebstahl beobachtet worden und nun sollte darüber abgestimmt werden, ob Baldur die Dorfgemeinschaft verlassen musste, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte, denn ohne die Sicherheit der kleinen Gemeinschaft war man verloren. Diese Versammlung der Dorfbewohner unter der Eiche wurde Thing genannt. Kjeld hatte sich, entgegen der Anweisung seines Vaters, aus dem Haus davongeschlichen und lag nun gut versteckt hinter einem dichten Gestrüpp, um dem Prozess gegen den verzweifelten Mann, der nur seiner kranken Frau helfen wollte, beizuwohnen. Direkt hinter dem Versammlungsplatz des Dorfes begannen die Sümpfe, ein Ort, zu dem sich niemand hinwagte, denn hier waren die Wassergeister und Dämonen zu Hause und ab und zu sah man geheimnisvolle mattgrüne Lichter durch den wabernden Nebel der Sümpfe scheinen, - es waren die verlorenen Seelen, die den Weg aus dem Moor heraus suchten, jedoch nicht fanden. Kein Dorfbewohner würde sich jemals an diesen Ort trauen; zu groß war die Angst, für immer dort bleiben zu müssen. Mörder wurden gebunden und als Strafe für ihre Taten lebendig in das Moor gestoßen, wo sie langsam einsanken und qualvoll starben.
Die Dorfbewohner hatten ein großes Feuer entfacht, das gespenstische Schatten warf und den Versammlungsplatz in ein geheimnisvolles Licht tauchte. Männer und Frauen standen um das Feuer herum und Baldur war an die Eiche angebunden worden, wo er auf den Richterspruch wartete.
Sein Gesichtsausdruck und auch seine Körperhaltung zeigten seine Angst und Ungewissheit, verzweifelt versuchte er, sich vergeblich von seinen Fesseln zu befreien. „Wir müssen hart gegen Baldur vorgehen. Wir sollten ihn aus unserer Gemeinschaft ausschließen, denn er hat gegen unsere Regeln verstoßen!“, sprach der Druide des Dorfes zu den um das Feuer versammelten Erwachsenen. Einige der Anwesenden murmelten zustimmend. „Denkt daran, dass Baldur immer ein wichtiges Mitglied unseres Dorfes war, er war für jeden von uns da und hat immer geholfen, wo er nur konnte!“, entgegnete Kjelds Vater Wisgard, der Schmied des Dorfes.
„Bernward, denke nur daran, wie Baldur deine Kuh gerettet hat als sie die Schwierigkeiten bei der Geburt ihres Kalbes hatte. Ohne Baldur wären die Kuh und auch das Kalb verloren gewesen."
Nervös wischte sich der Schmied ein paar letzte, noch nicht durch das warme Feuer geschmolzene Eiskristalle, aus seinem blonden Bart. Kjeld wusste, dass sein Vater einen großen Einfluss auf die Dorfbewohner hatte und sie großen Wert auf seine Meinung legten und so wartete Kjeld aufgeregt auf den Fortgang des Prozesses.
„Lasst uns abstimmen!“, sagte der Druide, „jeder von euch hat eine Eichel. Werft sie in den braunen oder weißen Tontopf.“ Kjeld sah die zwei Tontöpfe, die über das Leben oder den Tod Baldurs entscheiden sollten, je nachdem wie viele Eicheln am Ende der Abstimmung im jeweiligen Topf lagen. Sollten am Ende mehr Eicheln im weißen Topf sein, würde Baldur das Dorf verlassen müssen und sein Glück in der Fremde suchen. Jeder Dorfbewohner ging zu den Töpfen und warf seine Eichel hinein. Nachdem die letzte hineingeworfen worden war, ging der Druide nach vorne, zählte die Eicheln im jeweiligen Topf und gab dann das Ergebnis der Abstimmung bekannt. „Das Urteil der Dorfbewohner ist eindeutig, Baldur muss die Gemeinschaft verlassen. Wir können hier keinen Dieb gebrauchen!“, sagte der Druide zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht. Baldur wurde losgebunden, man gab ihm Wasser und Proviant für drei Tage und schickte ihn anschließend in die Dunkelheit hinaus. Niemand sagte etwas, auch Kjelds Vater Wisgard schwieg betroffen, denn das Urteil war für alle bindend.
Kjeld kroch rasch aus dem Gebüsch heraus, um schnell nach Hause zu eilen, denn er wollte noch vor seinem Vater das Langhaus erreicht haben. Auf einmal schob sich eine dunkle Wolke vor den Mond, - es wurde plötzlich stockdunkel und Kjeld verlor jegliche Orientierung. Er lief desorientiert in eine andere Richtung, entfernte sich dabei vom Dorf, direkt auf die Sümpfe zu. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen und in dem Glauben, bald das Dorf erreicht zu haben, beschleunigte Kjeld seine Schritte. Er fror und eine unheimliche Angst machte ihm das Atmen schwer. Da gab plötzlich der Schnee unter seinen Füßen nach und Kjeld brach bis zu den Knien in eine dunkle, klebrige Masse ein, die ihn langsam immer tiefer zog. „Vater, bitte hilf mir, ich bin in den Sumpf eingebrochen!“, schrie der verzweifelte Junge. Aber niemand war in der Nähe, der ihn hätte hören können. Kjeld sah in der Ferne gespenstische grünliche Lichter über das Moor huschen, der Nebel kroch langsam an ihm hoch und hüllte seinen Körper in einen kalten, feuchten Umhang. Immer tiefer sank er ein, es war, als würden zwei starke Arme an seinen Füßen ziehen. Verzweifelt versuchte der Junge sich zu befreien, aber seine Bewegungen ließen ihn immer schneller sinken. Als das kalte, modrig riechende Wasser über im zusammenschlug, wusste Kjeld, dass er für immer im Reich der Nixen und Walküren verloren war.
2. Kapitel
Ugerit, der Hohepriester des Baal
Ugerit stand vor dem bronzenen Spiegel und betrachtete seinen kahlen Schädel.
Sorgfältig zog er mit schwarzem Kajal seine Augenlider nach, sein feistes Gesicht machte im flackernden Licht des kleinen Öllichtes einen furchterregenden, unheimlichen Eindruck. Sein Körper war massig und wirkte im schwachen Schein des Öllichtes dick und aufgedunsen, was durch die blasse Farbe seiner Haut noch hervorgehoben wurde. Er war ein hässlicher Mann, weich und schwammig, der dennoch über enorme Körperkräfte verfügte. Zufrieden betrachtete Ugarit sein Spiegelbild und hängte eine Bernsteinkette um, an deren Ende ein großes, herzförmiges Stück Bernstein hing, in dem ein Insekt eingeschlossen war. Jene besondere Art von veredeltem Baumharz wurde „Tränen der Götter“ genannt und Ugerit fand, dass die Kette der passende Schmuck für diesen besonderen Abend war. Es war der Abend, an dem er seinen Anhängern eine ganz besondere Botschaft zu überbringen hatte, die Botschaft, auf die er sein Leben lang gewartet hatte und die ihn zum mächtigsten Mann der Stadt, vielleicht sogar zum mächtigsten Mann des Reiches machen sollte. Sorgfältig setzte er die Krone des Harthors auf und zog seinen mit Sternen bestickten Mantel an, der seine Nacktheit nur unzureichend bedeckte.
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