8. Kapitel
Die Gladiatorenschule des Flavius
Fasziniert schaute Aigidios zum Himmel empor. Er ahnte nichts von dem germanischen Jungen, der nur wenige Fußstunden von ihm entfernt genauso begeistert wie er zum Himmel schaute. Aus den Schriften des Aristoteles kannte er das Phänomen der Sonnenfinsternis, daher hatte diese keinen Schrecken für ihn. Um ihn herum schauten die Menschen ängstlich zum Himmel empor, da sie fürchteten, dass nun die Welt untergehen würde. Neben ihm brach eine Frau weinend zusammen und rief ängstlich nach ihrem Mann. Tröstend nahm Aigidios sie in den Arm und flüsterte ihr zu: „Habe keine Angst, es wird dir nichts passieren, bald wird die Sonne wieder scheinen!" Und so war es auch, Aigidios hatte recht. Nach einiger Zeit begann die Sonne wieder hell und warm vom wolkenlosen Himmel zu strahlen und langsam gingen die Menschen erneut ihren täglichen Beschäftigungen nach.
Immer wieder dachte Aigidios an den vergangenen Abend und an den schwammigen Priester, der ihm seltsam vertraut vorkam. Er musste diesem Mann schon einmal begegnet sein. Er wusste nicht, was er tun konnte, um den Mord an dem kleinen Kind zu verhindern. Da das Leeren der Sickergrube durch den dicken, unbeholfenen Silvius mindestens bis zum Mittag dauern würde, hatte er jetzt noch ausreichend Zeit, seine Gedanken zu ordnen und nach einer Lösung zu suchen. Er wusste nicht, wer das Opfer sein sollte, auch hatte er keine Ahnung, wann das Opferritual stattfinden sollte. Die Voraussetzungen das Kind zu retten, waren also denkbar schlecht. Aigidios fühlte sich furchtbar hilflos.
Vielleicht war der Orden des Baal auch einfach nur ein Zusammenschluss von harmlosen Spinnern, die irgendwelchen obskuren Predigern hinterherliefen und ab und zu ein Lamm opferten. Er wusste es nicht. Ziellos lief Aigidios durch die Stadt. Er musste sich jemandem anvertrauen.
Da fiel ihm der alte Aulus ein. Aulus war der Hausmeister in der Gladiatorenschule seines Besitzers Flavius. Aulus konnte auf ein langes, erfolgreiches Gladiatorenleben zurückblicken. Er war germanischer Sklave gewesen und hatte seine Gladiatorenausbildung in Ravenna begonnen und auch beendet. Ravenna besaß die bekannteste und berühmteste Gladiatorenschule im römischen Imperium und die Schüler, die die harte, brutale Gladiatorenausbildung überlebten, waren in allen großen Arenen des Römischen Reiches als Kämpfer beliebt. Leider hatte Aulus nicht das Glück gehabt, freigelassen zu werden, so war er noch heute ein Sklave, der seinem Herrn Flavius treu diente. Schnell lief Aigidios zur Gladiatorenschule seines Herrn, die direkt in der Nähe des großen Amphitheaters lag. Von den Rängen des Theaters hatte man einen spektakulären Ausblick auf den großen Fluss, der gemächlich vor sich hinströmte. Wie immer saß Aulus in der untersten Reihe des Theaters auf einer Steinbank und sah den Kämpfern zu, die für die bevorstehenden Wettkämpfe übten. „Nimm dein Schild hoch!“, schrie er den vor ihm stehenden Gladiator an, „hätte Prometheus nicht ein Holzschwert, sondern ein Schwert aus Metall, würdest du jetzt bis zu deinem Lebensende nur noch mit einem Arm herumlaufen. Vorausgesetzt, dass der Blutverlust gestoppt werden könnte." Um Unfälle zu vermeiden, wurde in der Gladiatorenschule ausschließlich mit Holzschwertern geübt. Richtige Waffen wurden nur zu den Wettkämpfen ausgegeben, die Unfallgefahr und die Gefahr eines Aufstandes waren einfach zu groß. Seitdem der thrakische Sklave und Gladiator Spartakus die römische Armee an den Rand einer Niederlage gebracht hatte, war man sehr vorsichtig geworden. „Salve Aulus, ich brauche deinen Rat.“ Aigidios setzte sich neben den alten Mann, der ihn freundlich anschaute. „Aigidios, was hast du diesmal wieder angestellt, aus welcher Klemme muss ich dich jetzt schon wieder befreien? Erzähle!" Aulus wusste, dass Aigidios in jedes Fettnäpfchen trat, das auf seinem Weg lag, schon oft hatte er ihm geholfen. Aigidios erzählte dem alten Gladiator von seinem nächtlichen Erlebnis. Stirnrunzelnd und schweigsam hörte der Alte zu, nur ab und zu stellte er eine Frage. Währenddessen ging der Kampf in der Arena weiter. Gerade wollte der Schwertkämpfer zu einem gewaltigen Hieb ansetzen, der seinen Gegner wohl zweigeteilt hätte, wenn sein Partner nicht geistesgegenwärtig und sehr geschickt das feinmaschige Netz über ihn geworfen hätte und, so den überraschten Mann plötzlich zu Boden zog. Zappelnd und kampfunfähig lag der große Mann im Sand, bei einem wirklichen Kampf hätte diese vollkommene Hilflosigkeit seinen unweigerlichen Tod bedeutet. Heute hatte er Glück und somit nur ein paar blaue Flecken davongetragen. Aulus klatschte in die Hände, die Kämpfer verbeugten sich vor Aulus und verließen das Theater. „Stümper!", sagte Aulus nur und schaute den beiden Gladiatoren kopfschüttelnd hinterher. Aulus war früher ein Retiarius gewesen. Wenn er mit einem Netz in der linken und einem Dreizack in der rechten Hand die Arena betrat, wussten seine Gegner, dass ihnen ein schwerer Kampf bevorstand, der oft genug tödlich endete. Aulus hatte sich über viele Jahre hinweg den Ruf erworben, unbesiegbar zu sein. Noch heute war er stark und sehr geschickt, niemand kämpfte gerne gegen ihn. „Aigidios, ich kenne den Orden des Baal. Zu der Zeit, als ich in Heraclum tätig war, verbreiteten die Anhänger des Baal Angst und Schrecken. Kleinkinder wurden geraubt und getötet, man sprach sogar davon, dass die Mitglieder des Ordens die Kinder braten und essen würden. Ugerit hieß der damalige Hohepriester dieser Wahnsinnigen. Der Protektor der Stadt ging damals brutal und konsequent gegen die Mitglieder dieses Ordens vor. Alle Mitglieder, deren er habhaft werden konnte, wurden gekreuzigt. Viele starben, nur Ugerit wurde nicht gefasst, er muss sich in eine andere Stadt abgesetzt haben. Niemand kannte seine Identität.“ Ein Geistesblitz durchzuckte den Körper Aigidios. „Aulus, Ugerit war der Name des Mannes, den ich an dem Abend der Versammlung gesehen habe!“ „Vielleicht ist es nur ein Zufall, Aigidios, aber sollte es wirklich der gleiche Mann wie damals in Heraclum sein, so ist er sehr gefährlich und kein harmloser Spinner. Wir müssen seine Identität ermitteln und vor allem müssen wir herausbekommen, wer das Opfer sein soll. Eines ist sicher, es wird nicht das Kind eines einfachen Mannes sein, es muss das Kind einer hochgestellten Persönlichkeit sein. Ansonsten ist das Opfer umsonst und der Zauber vollkommen wirkungslos.“ Nachdenklich schaute Aigidios Aulus an. Natürlich, - der alte Mann hatte recht, nur das Kind einer hochgestellten Persönlichkeit konnte das Opfer sein. Wenn Aigidios dieses Kind gefunden hätte, würde dieses ihn automatisch zu der Person des Hohepriesters führen. „Danke Aulus, du hast mir sehr geholfen, ich muss und werde versuchen, das Kind zu finden. Es ist spät, ich muss wieder zurück, Flavius wird mich schon erwarten.“ Schnell lief der Junge wieder heim. Als er die Villa des Flavius erreicht hatte, blieb er plötzlich stehen und brach in ein herzhaftes Lachen aus. Der dicke Silvius stand bis zu den Knien in der Sickergrube und wühlte mit beiden Händen im Schlamm. Neben ihm stand laut schimpfend Lucullus, der Aigidios böse Blicke zuwarf. Auch der einfältige Silvius schien langsam zu begreifen, dass er in dieser Sickergrube weder Geld noch sonst etwas Wertvolles finden würde. „Aigidios, es war deine Aufgabe, die Grube zu leeren! Komm mit, du wirst jetzt deine gerechte Strafe bekommen!“ Aigidios sah ängstlich, wie Lucullus seinen schwarzen Gürtel drohend in der Luft herumschwang. Er wusste, dass er es diesmal zu weit getrieben hatte.
Der Hahn krähte früh am Morgen. Langsam ging die Sonne auf und der blutrote Feuerball vertrieb allmählich die Schatten der Nacht, die wie eine bleierne Decke über den Dächern der Langhäuser ruhten. Es versprach ein schöner, freundlicher Tag zu werden. Kjeld drehte sich noch ein letztes Mal zur Seite und schaute in das fast verglühte Feuer des Herdes. Seine Mutter Landerut war bereits aufgestanden und hatte angefangen, das Frühstück für die Familie und ihren römischen Gast Quintus vorzubereiten. Da es ein besonderer Tag war - der Tag der Abreise Quintus - gab es ausnahmsweise Eier und frische Milch und nicht nur den üblichen Getreidebrei. Auch sein Vater Wisgard war bereits wach und weckte Kjeld: „Steh auf, Kjeld! Wir haben heute viel zu erledigen. Die Schwerter müssen noch einmal geschärft und dann auf Quintus Wagen verladen werden. Quintus will aufbrechen, bevor es dunkel wird.“ „Ja, Wisgard, das muss ich. In dieser Gegend streifen dunkle Gesellen herum! Die römischen Posten am Limes erzählten mir, dass in letzter Zeit viele Händler überfallen worden seien. Aber du kennst mich. Ich verstehe es, mich zu verteidigen.“ Quintus zog sein Schwert und wirbelte es geschickt in der Luft herum. Obwohl der Händler einen eher gedrungenen, dicklichen Eindruck machte, so war er doch ein geschickter Schwertkämpfer, der sich durchaus zu wehren wusste. „Vater, ich würde so gerne Quintus begleiten, ich möchte die Stadt sehen und die Gebäude, die aus Stein errichtet worden sind. Quintus sagte mir, dass die Römer fast täglich baden und dafür spezielle Häuser mit warmem und kaltem Wasser haben, bitte erlaube es mir!“ Kjeld und Wisgard mussten herzlich lachen. Auch Landerut und die kleine Birte stimmten herzlich in das Gelächter ein. In dem kleinen ubischen Dorf wurde maximal zweimal im Jahr gebadet, niemand käme auf die Idee, dass ein öfteres Reinigen der Haut sinnvoll wäre. Aber trotz ihrer angeborenen Scheu vor Wasser konnten fast alle Germanen schwimmen, was beim Fischfang sehr hilfreich war. Wisgard schüttelte seinen Kopf. Niemals würde er seinen Sohn alleine in die fremde Stadt ziehen lassen. „Nein, Kjeld, du bleibst hier, es ist auf der anderen Seite des Flusses viel zu gefährlich für dich!“ „Vater bitte!“ „Kein Wort mehr, Kjeld, du bleibst hier!“ Traurig begann Kjeld mit seinem Vater und Quintus die frisch geschliffenen, scharfen Schwerter auf den Karren zu laden. Der Händler würde für diese Kurzschwerter, die die Römer Glades nannten, einen ausgezeichneten Preis erzielen können. Auch Wisgard war mit dem Geschäft zufrieden. Er kannte Quintus schon seit vielen Jahren. Es verband die beiden eine innige Freundschaft und Wisgard wäre niemals auf die Idee gekommen, dass Quintus ihn betrügen könnte. Auch Quintus wusste, dass Wisgard ein wirklicher Freund war, ein Mann auf den er sich immer verlassen und dem er bedingungslos vertrauen konnte. Als das letzte Schwert verladen war, begann es langsam dunkel zu werden. Die Männer breiteten noch schnell eine Plane über die Schwerter und banden diese an den vier Seiten des Karrens fest. So waren die kostbaren Klingen vor der Nässe der kühlen Frühlingsnacht geschützt. „Komm, Quintus, wir trinken noch schnell ein Glas Bier zum Abschied. Kjeld, kümmere du dich in der Zwischenzeit um die Ochsen. Füttere sie und spanne sie vor den Wagen.“ „Ja, Vater, ich werde mich beeilen.“ Kjeld fütterte die Ochsen und spannte sie anschließend vor den Wagen. Anschließend wollte er in das Langhaus zu den anderen gehen, stoppte dann plötzlich, kehrte um und kletterte schnell auf den Karren und versteckte sich unter der Plane. „Ich fahre mit in die Stadt, schaue mich dort ein wenig um und fahre dann anschließend mit Quintus wieder zurück“, dachte Kjeld und hörte für einen Augenblick auf zu atmen, als er die beiden Männer zurückkehren hörte. Wisgard und Quintus umarmten sich herzlich, niemand vermisste in dem Augenblick des Abschiedes den Jungen, der unter der Plane kaum zu atmen wagte. „Quintus, fahre vorsichtig, wir sehen uns in einem halben Jahr wieder.“ „Auf Wiedersehen, Wisgard und schmiede wieder so gute Schwerter wie diese hier. Du weißt, die Römer haben einen großen Bedarf.“ Quintus trieb die Ochsen mit der Peitsche an, die sich langsam und behäbig nach vorne bewegten. Wisgard, Landerut und die kleine Birte winkten Quintus lange nach, niemand vermisste in der Aufregung des Abschieds Kjeld, der sich unter der Plane nicht atmete und bewegungslos verharrte. Quintus saß vorne auf dem Kutschbock und sang ein fröhliches Trinklied. Er war lange unterwegs gewesen und freute sich auf die Annehmlichkeiten der Stadt. Er dachte noch einmal an Wisgard und dessen Familie. Quintus wollte die Freundschaft zu diesem germanischen Schmied nicht missen. Die Schwerter waren bei den römischen Soldaten sehr beliebt, da sie eine ausgesprochen gute Qualität hatten. Quintus würde wieder einmal einen äußerst guten Preis erzielen.
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