Naive Frechheit, stellt Lepsius innerlich fest. Er lehnt sich zurück und sucht das Beben seiner Stimme zu beherrschen:
»Meines Wissens sind diese fünfzehn armenischen Männer schon längst vor dem Krieg verhaftet worden, folglich können sie sich doch schwerlich des Hochverrats nach geltendem Kriegsrecht schuldig gemacht haben.«
»Wir kommen selbst von der Revolution her«, antwortet der General nicht zur Sache, aber dafür mit der Heiterkeit eines Knaben, der sich köstlicher Streiche erinnert. »Wir wissen sehr gut, wie das gemacht wird.«
Lepsius verschluckt ein Kraftwort über die Revolution und räuspert sich zu einer neuen Frage hinüber:
»Und die armenischen Notabeln und Intellektuellen, die Sie hier in Stambul inhaftiert und abgeschoben haben, sind die auch des Hochverrats überwiesen?«
»Sie werden einsehen, daß wir auch nur mögliche Hochverräter in nächster Nähe der Dardanellenfront nicht dulden können.«
Johannes Lepsius widerspricht nicht, sondern wirft sich mit einem jähen Temperamentsausbruch auf die Hauptsache:
»Aber Zeitun! Ich möchte dringend Ihre Ansicht über Zeitun hören, Exzellenz!«
Enver Paschas blitzblanke Freundlichkeit verfinstert sich feierlich:
»Der Aufruhr von Zeitun war eine der größten und infamsten Revolten in der Geschichte des türkischen Reichs. Der Kampf mit den Insurgenten hat unseren Truppen leider schwere Verluste gekostet, wenn ich sie Ihnen auch auswendig nicht nennen kann.«
»Ich habe über Zeitun andere Berichte als Exzellenz« – Lepsius führt diesen Schlag mit stockenden Silben –, »meine Berichte sprechen von keinem Aufruhr in der dortigen Bevölkerung, sondern von monatelanger Herausforderung und Bedrückung durch die Bezirks- und Sandschakbehörden. In ihnen ist von einem Nichts die Rede, das ein stärkeres Polizeiaufgebot hätte bereinigen können, während in der militärischen Assistenz von einigen tausend Mann für jeden gerechten Menschen die vorgefaßte Absicht deutlich wird.«
»Sie wurden mit falschen Informationen bedient«, meint der General unberührt artig. »Darf ich die Herkunft Ihrer Berichte erfahren, Herr Lepsius?«
»Ich werde einige nennen, schicke aber voraus, daß armenische Quellen nicht darunter sind. Hingegen kenne ich die genauen Memoranden verschiedener deutscher Konsuln, ich besitze Aufzeichnungen von Missionaren, die Augenzeugen der grauenhaftesten Vorgänge waren. Und schließlich empfing ich ein lückenloses Bild von der Lage durch den amerikanischen Botschafter, Mr. Morgenthau.«
»Mr. Morgenthau«, bemerkt Enver übermütig, »ist Jude. Und die Juden stehen immer fanatisch auf Seiten der Minderheit.«
Diese graziöse Unzugänglichkeit macht Lepsius erstarren. Er hat eiskalte Hände und Füße:
»Es kommt nicht auf Morgenthau an, Exzellenz, sondern auf die Tatsachen. Und die Tatsachen werden und können Sie nicht leugnen. Hunderttausend Menschen sind bereits auf dem Wege der Verschickung. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich behaupte aber, daß dies, gelinde gesagt, ein Wortmißbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln, in einer ozeanweiten Einöde, die sogar von den Beduinenstämmen geflohen wird? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportation so ein, daß die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, daß man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär, umbringen läßt, daß die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden ...«
Der General hört mit höflichster Aufmerksamkeit zu, dabei aber gibt seine abgespannte Miene zu erkennen: dieses schale Lied höre ich zwölfmal täglich. Die Manschette, die er mit seiner weißen Frauenhand aus dem Ärmel hervorholt, scheint ihm wichtiger zu sein.
»Sehr bedauerliche Dinge! Aber der Oberkommandierende einer großen Wehrmacht ist für die militärische Sicherheit seines Kriegsgebietes verantwortlich.«
»Kriegsgebiet«, schreit Lepsius auf, beherrscht sich aber sofort und versucht, den ruhigen Ton Envers aufzunehmen: »Kriegsgebiet, das ist die einzige neue Nuance. Alles andere, Zeitun, Hochverrat, Umtriebe, war schon dagewesen. Diese Mittel hat Abdul Hamid meisterhaft gehandhabt, wenn die Armenier wieder daran glauben sollten. Ich bin ein älterer Mann als Sie, Exzellenz, und habe es an Ort und Stelle miterlebt. Denke ich aber an die Deportationen, so muß ich dem alten Sünder Abbitte leisten. Er war ein Stümper, ein harmloses Kind gegen die neuen Methoden. Und Ihre Partei, Exzellenz, hat die Macht doch nur erobert, weil es die blutige Zeit des alten Sultans durch Gerechtigkeit, Einigkeit, Fortschritt ablösen wollte. Dahin lautet doch auch der Name Ihres Komitees.«
Dieser Hieb ist kühn, ja unbesonnen. Johannes Lepsius erwartet eine Sekunde lang, der Kriegsminister werde aufstehen und die Unterredung beenden. Enver bleibt aber ruhig sitzen und auf seine Liebenswürdigkeit fällt nicht der geringste Schatten. Er beugt sich sogar vertraulich vor:
»Ich werde Ihnen eine Gegenfrage stellen, Herr Lepsius. Deutschland besitzt glücklicherweise keine oder nur wenig innere Feinde. Aber gesetzt den Fall, es besäße unter anderen Umständen innere Feinde, nehmen wir an Francoelsässer, Polen, Sozialdemokraten, Juden, und zwar in größerer Menge, als das der Fall ist. Würden Sie da, Herr Lepsius, nicht jegliches Mittel gutheißen, um Ihre schwerkämpfende, durch eine Welt von äußeren Feinden belagerte Nation vom inneren Feinde zu befreien? Würden Sie es dann auch so grausam finden, wenn man die für den Kriegsausgang gefährlichen Bevölkerungsteile einfach zusammenpackte und in entlegene, menschenleere Gebiete verschickte?«
Johannes Lepsius muß sich mit beiden Händen anhalten, um nicht aufzuspringen und hervorzufuchteln:
»Wenn die Regierenden meines Volkes«, ruft er sehr laut, »ungerecht, gesetzlos, unmenschlich« (unchristlich hat er schon auf der Zunge gehabt) »gegen ihre Landsleute von anderem Stamm oder anderer Gesinnung vorgingen, so würde ich mich im selben Augenblick von Deutschland lossagen und nach Amerika ziehen!«
Langer Augenaufschlag Enver Paschas:
»Traurig für Deutschland, wenn andre auch so denken wie Sie. Ein Zeichen, daß Ihrem Volk die Kraft fehlt, seinen nationalen Willen rücksichtslos durchzusetzen.«
An dieser Stelle des Gespräches wird der Pastor von einer großen Müdigkeit heimgesucht. Sie kommt aus dem Gefühl, daß der kleine geschlossene Mensch dort in seiner Weise recht hat. So hat die verbissene Weisheit der Welt immer gegen Christus recht. Das Arge aber ist, daß sich Envers Rechthaben in diesem Augenblick auf Johannes Lepsius überträgt und seine Kampfkraft schwächt. Bergschwer fällt ihm das ungewisse Schicksal seines eigenen Vaterlandes auf die Seele. Er flüstert:
»Der Vergleich stimmt nicht.«
»Gewiß, der Vergleich stimmt nicht. Doch er fällt zu unsern Gunsten aus. Wir Türken haben es hundertmal schwerer, uns zu behaupten, als ihr Deutsche.«
Lepsius zieht in qualvoller Zerstreutheit sein Taschentuch und hält es in der Hand wie eine Parlamentärflagge:
»Es handelt sich hier nicht um den Schutz vor einem inneren Feind, sondern um die planvolle Ausrottung einer anderen Nation.«
Er bringt das stumpf und stoßweise vor, während seine Augen, die Envers Gelassenheit nicht länger ertragen, in das Kabinett mit den Heroenbildern schweifen. Steht nicht Monsignore Sawen, der Patriarch, dort? Lepsius weiß sofort, er müßte über »Wirtschaft« reden. Schnell rafft er sich zu neuer Kraftanstrengung auf:
»Exzellenz, ich bin nicht so vermessen, Ihnen die Zeit durch leere Gespräche zu rauben. Ich werde es wagen, Sie auf verschiedene Übelstände aufmerksam zu machen, die Sie sich selbst vielleicht noch nicht ganz klargemacht haben, was bei der Amtsüberlastung eines Oberbefehlshabers verständlich ist. Das Innere, Anatolien, Syrien, kenne ich vielleicht besser als Sie selbst, da ich jahrelang in diesen Gebieten unter schweren Bedingungen gearbeitet habe.«
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