Er hätte bei dem Patriarchen sich nicht so lange verweilen, sondern nach einigen Minuten verabschieden sollen. Leider aber ist die pedantische Zielstrebigkeit nie seine Stärke gewesen. Selbst sein armenisches Hilfswerk nach den Metzeleien unter Abdul Hamid hat er weniger durch vernünftige Politik als durch leidenschaftliches Türeneinrennen geschaffen. Nicht umsonst frönte er hie und da noch immer dem Jugendlaster des Dichtens: »Totentanz«, »Der ewige Jude«, »John Bull« und so ähnlich. Improvisation, Abhängigkeit vom Augenblick, das ist sein Fall, er weiß es. Und so hat er sich heute nicht losreißen können von dem rührenden Priester. »Sie werden in einer Stunde vor Enver stehn« – der leisen Stimme des Monsignore Sawen merkte man die Kette der schlaflosen Nächte an, sie starb gleichsam mit ihrem Volk dahin. »Sie werden vor diesem Menschen stehen. Gott segne Sie. Aber auch Sie werden nichts erreichen.«
»So mutlos bin ich nicht, Monsignore«, hatte Lepsius zu trösten versucht. Eine entsagungsschmerzliche Handbewegung aber schnitt ihm das Wort ab. »Wir haben heute in Erfahrung gebracht, daß nach Zeitun, Aïntab, Marasch usw. nun auch die Deportation über die ostanatolischen Vilajets verhängt ist. Außer dem Westen von Kleinasien bleibt also bisher nur Aleppo und der Küstenstrich von Alexandrette verschont. Sie wissen besser als jeder andere, daß die Deportation ein verschärfter und in die Länge gezogener Foltertod ist. Von den Bewohnern Zeituns soll niemand mehr am Leben sein.« Die Augen des Patriarchen hatten Johannes Lepsius jeden Einspruch verboten: »Lassen Sie das Unmögliche bleiben und konzentrieren Sie sich auf das Mögliche! Vielleicht gelingt es Ihnen, ich glaube es nicht, einen Aufschub für Aleppo und den Küstenstrich zu erwirken. Jeder Tag ist ein Gewinn. Pochen Sie auf die deutsche Öffentlichkeit und die Zeitungen, die von Ihnen unterrichtet werden. Vermeiden Sie vor allem eins: Moralisieren Sie nicht! Das lockt diesem Menschen nur Hohn hervor! Bleiben Sie bei den politischen Tatsachen! Drohen Sie mit der Wirtschaft, das verfängt am ehesten. – Und jetzt empfangen Sie meinen Segen, lieber Sohn, für Ihr edles Werk! Christus sei mit Ihnen!« Lepsius hatte den Kopf gebeugt, der Patriarch aber schrieb ein großes Kreuz über seine ganze Brust.
Nun aber sitzt er da, in der schwerfälligen Barke auf den Wellen des Goldenen Horns treibend, der Schiffer stößt seine Ruder ungerührt bedachtsam ins Wasser, und als sie endlich anlegen, sind mehr als zwanzig Minuten vergangen. Mit dem ersten Blick sieht Johannes Lepsius, daß auf dem Standplatz nicht eine Araba wartet. Er lacht verzerrt vor sich hin, denn hinter dieser ausgesuchten Reihe raffinierter Hindernisse verbirgt sich mehr als Zufall. Gegnerische Mächte werfen ihm Prügel zwischen die Beine, weil er sich in die armenische Sache mengt, die wohl ihren ungehemmten Lauf nehmen soll. Er schaut sich auch nach keiner Droschke mehr um, sondern beginnt, so groß, alt und auffallend er auch ist, zu laufen. Damit kommt er nicht weit. Die Plätze und Gassen des alten Stambuls sind von einer gewaltigen, festfeiernden Menge erfüllt. Unter den beflaggten Häusern, an buntgeschmückten Läden und Cafés vorbei, schieben und stoßen sich Tausende mit Fez oder Tarbusch, schreiende fanatisierte Gesichter. Was ist geschehen? Hat man an den Dardanellen die Alliierten vertrieben? Lepsius denkt an das ferne Geschützfeuer, das er in der Nacht so oft hört. Die schweren Geschütze der englischen Flotte begehren pochenden Einlaß nach Konstantinopel. Und er erinnert sich, daß heute irgendein Gedenktag der jungtürkischen Revolution gefeiert wird. Vielleicht ist es das Erinnerungsfest des Tages, an dem das Komitee seine politischen Feinde durch Mord aus dem Weg räumte, um endgültig die Macht zu ergreifen? Gleichviel, welcher Gedenktag auch gefeiert werden mag, die Menge tobt und brüllt. Vor einem Geschäftshaus eine dicke Stauung! Junge Leute steigen auf bereitwillige Schultern, erklettern das Gesimse, und in der nächsten Minute poltert eine große Firmentafel zur Erde. Lepsius, der in den Menschenknäuel geraten ist, fragt einen Nachbarn, der keinen Fez trägt, nach dem Sinn dieser Geschehnisse. Es werden keine fremden Aufschriften mehr geduldet, hört er, die Türkei den Türken, alle Wegweiser, Straßen- und Geschäftstafeln dürfen nur mehr einsprachig türkisch sein! Und der Nachbar (wahrscheinlich ein Grieche oder Levantiner) lacht boshaft: »Da haben sie aber diesmal unsere Verbündeten demoliert. Es ist ein deutsches Geschäft.«
In langer Reihe drängen sich die aufgehaltenen Straßenbahnzüge hintereinander. Es ist eigentlich gleichgültig, denkt Lepsius, wann ich hinkomme, die Sache ist verloren. Dennoch aber nimmt er einen Anlauf und zerteilt mit rücksichtslosen Stößen die Menge. Noch eine Seitengasse, dann öffnet sich der Platz vor ihm. Das große Palais des Seraskeriats. Hoch ragt der Turm Mahmuts des Zweiten. Jetzt läßt sich der Pastor Zeit. Er beginnt langsam zu gehn, um die Löwenhöhle nicht atemlos zu betreten. Als er, durch endlose Treppen und Gänge zermürbt, seine Karte im Büro des Kriegsministeriums abgibt, erhält er von einem eleganten, überaus freundlichen Ordonnanzoffizier den Bescheid, Exzellenz Enver Pascha bedaure lebhaft, daß es ihm unmöglich war, länger zu warten, er bitte aber den Herrn, ihn im Ministerium des Innern im Serail mit seinem Besuch zu beehren.
Johannes Lepsius hat jetzt einen noch weit längeren Weg zurückzulegen als vorher. Aber diesmal ist die Verhexung völlig gebrochen, die Dämonen haben sich eines anderen besonnen, sie drängen ihm gewissermaßen die Bequemlichkeit auf. Vor dem Tor wartet ein eben frei gewordener Wagen, der Kutscher ist auf gute Fahrt bedacht, er vermeidet die volkreichen Stätten und in zauberhaft kurzer Zeit erreicht der Kämpfer, völlig ausgeruht und von einer ihm selbst unbegreiflichen Zuversicht durchströmt, die stille Welt des Serails, um alsbald mit Donnerhufen auf dem alten Katzenkopfpflaster dem Ministerium entgegenzurollen. Hier ist er erwartet. Ehe er noch die Karte zückt, empfängt ihn ein Beamter mit der Frage: »Dr. Lepsius?« Welch günstige Vorbedeutung! Wieder Treppen und ein langer Gang. Diesmal aber glaubt er, von guten Ahnungen getragen, leichtfüßig dahinzuschweben. Das stille Ministerium des Innern, Talaat Beys Festung, macht einen angenehm verträumten Eindruck auf ihn. Märchenhaft beinahe wirken die Amtszimmer, die keine Türen haben, sondern nur von sich blähenden Vorhängen abgeschlossen sind. Auch dies beruhigt ihn, er weiß nicht warum, als gute Vordeutung. Er wird am Ende des Ganges in ein besonderes Appartement geführt. Es ist das Hauptquartier Enver Paschas im Ministerium des Innern. In diesen beiden Räumen hier sind gewiß die Würfel über das armenische Schicksal geworfen worden. Ein größeres Zimmer, dem Anschein nach ein Warte- und Sitzungssaal, und daneben ein Kabinett mit einem großen leeren Schreibtisch. Der Vorhang zu diesem Kabinett ist zurückgeschlagen. Lepsius bemerkt an der Wand über dem Schreibtisch drei Bilder. Rechts Napoleon, links Friedrich der Große, und dazwischen die vergrößerte Photographie eines türkischen Generals, ohne Zweifel Enver Pascha, der neue Kriegsgott.
Der Wartende setzt sich ans Fenster. Sein Auge saugt, über den Kneifer hinweg, Ruhe aus dem schönen Bild des Verfalls, aus Kuppelsturz und Marmorbruch, von Pinien beschirmt. Dahinter der Bosporus mit spielzeughaft dahinschiebenden Dampferchen. Der kurzsichtige, blau in die Ferne gerichtete Blick des Pastors, der kindliche Mund, der sich aus dem sanften, grauen Bärtchen hervorwölbt, die strengen Wangen, die noch von Eile und Not gerötet sind, all dies bildet einen Ausdruck von Leiden und von Schwärmerei, die gegen sich selbst unerbittlich ist. Ein Diener bringt eine Kupferkanne mit Kaffee. Lepsius genießt gierig drei, vier Schalen hintereinander. Durch diesen Kaffee wird ihm ein Vorsprung gegeben, seine Nerven spannen sich, die Adern treiben frischer das Blut zum Kopf. Als Enver Pascha eintritt, hat Lepsius gerade die letzte Tasse geleert.
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