Titelseite Franz Werfel Jeremias Höret die Stimme Roman
Erstes Kapitel. Im Tempel
Zweites Kapitel. Die Stimme außen und innen
Drittes Kapitel. Der Prophet im Vaterhaus
Viertes Kapitel. Die Schule der Gesichte
Fünftes Kapitel. Wanderung und erstes Ärgernis
Sechstes Kapitel. Der König ruft
Siebentes Kapitel. Der Taumelbecher
Achtes Kapitel. Meggiddo
Neuntes Kapitel. Das große Rechten
Zehntes Kapitel. Unter den blühenden Säulen von Noph
Elftes Kapitel. Zenua
Zwölftes Kapitel. Zenua wird angenommen
Dreizehntes Kapitel. Der Gang durch die Amenti
Vierzehntes Kapitel. Das Schicksal vor dem Scherbentor
Fünfzehntes Kapitel. Die Füße im Block
Sechzehntes Kapitel. Jojakim und Konjah
Siebzehntes Kapitel. Das Werk der Verborgenheit
Achtzehntes Kapitel. Glühende Kohlen und giftiger Wein
Neunzehntes Kapitel. Melech Babilu
Zwanzigstes Kapitel. Eselsbegräbnis und Himmelsschüssel
Einundzwanzigstes Kapitel. Die Fahrt durch den Sternenhimmel
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Das Rinderjoch
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Zidkijah und sein Haus
Vierundzwanzigstes Kapitel. Der Gefangene des Bundes
Fünfundzwanzigstes Kapitel. Der Triumph Zidkijahs
Sechsundzwanzigstes Kapitel. Zwischen den Mauern, in den Gewölben, auf dem Wachthof
Siebenundzwanzigstes Kapitel. Aus der Tiefe und aus der Höhe
Achtundzwanzigstes Kapitel. Durch die Finsternis
Neunundzwanzigstes Kapitel. Der Rest
Dreißigstes Kapitel. Der Tempel
Nachwort
Franz Werfel
Jeremias
Höret die Stimme
Roman
Erstes Kapitel.
Im Tempel
Incipit vita Hieremiae prophetae
Der Mann, der seine Hand an die Augen hält, um sie vor der blendenden Abendsonne zu schützen, sieht nicht ohne Verwunderung an seinem Gelenk ein breites Lederband. In dieses Band ist eine Kapsel eingenäht und die Kapsel enthält einen Pergamentstreifen mit einigen Schriftzeichen. Ein starker Segen Gottes. Eine Spanne lang hat er sich in den Anblick verloren und muß erst wieder zurückfinden in die Erinnerung seiner selbst. Noch immer schwebt ihm das Lederband mit dem Segensspruch vor Augen. Ja, seine Mutter, des Hilkijah Weib, knüpfte es am Morgen dieses Tages um sein Gelenk, ehe er aus Anathot ritt, um in den wahrhaftigen und einzigen Tempel des Herrn einzugehen. Das Segensband ist ein Erbstück aus seiner Mutter Vaterhaus von altersher. Dieser Tag aber ist ein Tag der Ehre, ein Tag, da der Herr im Tempel seiner Jugend sich freut. Wie erregt war die Mutter gewesen. Sie selbst hatte ihn geweckt. Und wohlbegründet war ihr Stolz. Aus allen Vaterhäusern der Priesterschaft, die ringsum im Lande leben, ohne im Tempel bedienstet zu sein, hat von den jüngsten Söhnen einzig ihn, Jirmijah , die Berufung getroffen. Sein Vaterhaus freilich ist eines der ältesten in Jehuda und Benjamin, reicht es doch in die heilige Gezeit bis zu Ebijathar, dem Verbannten, bis zu Eli, dem Priester von Siloh, bis zu Mose und Aaron selbst. Heute ist Jirmijah auserwählt, beim Passah-Opfer am Abend Ehrendienst zu tun oder an der Tafel des Königs aufzuwarten. Das Herz des jungen Menschen pocht laut, denn eine große Vorfreude erfüllt es. Er liebt von ganzer Seele göttliches Fest und Festgepränge, wenn die Feuer lodern, wenn die Lampen glühen, wenn Harfen, Posaunen und Pauken jubeln, wenn die Menschen sich frohlockend berühren und in der Bindung des Herrn binden.
Jirmijah wendet den Blick nach Süden. In einer letzten Blutwoge flammen die Amts- und Wohnpaläste der königlichen Residenz auf, die nur durch eine feste Mauer vom Geviert des Herrn getrennt ist. Wie stark muß die Seele des Königs sein, um diese nahe Nachbarschaft Gottes ständig zu ertragen! Auf dem Zinnengang der Mauer sieht man die Posten der Leibwache mit ihren langen Stoßlanzen langsam auf und ab schreiten. Zwischen dieser Mauer aber und dem Standort des Sinnenden drängt sich die ungeheure Menge des Festabends. Daß doch Jerusalem und des Herrn zusammengeschmolzenes Land so viele Menschen faßt. Nicht in Assur, nicht in Babel, nicht in Ägypten könnte bei den Festen der goldenen und silbernen Nichtse mehr Volk teilnehmen. So denkt in jugendlichem Stolze Jirmijah aus Anathot, der freilich von der großen Welt und ihren Hauptstädten keine eigene Erfahrung hat. Doch ist es nicht seit jeher allbekannt, daß die Baalim der Weltstädte zwar die Macht besitzen, Rausch und Taumel in das Blut der Sterblichen zu gießen, daß aber die Freude des Geistes, frei von Wein und Wollust, einzig ein Geschenk des Gottes Jakobs ist, den, trotz aller Namen, die er trägt, kein Name nennt? Zu Füßen des jungen Priestersohnes vom Lande, unterhalb der umlaufenden Stufen, stößt und keilt sich das Volk der Gottgäste. Es erfüllt den weiten äußeren Vorhof, der die erhöhte Riesenbühne des eigentlichen Heiligtums umklammert. Flackerschein durchzuckt die beginnende Dämmerung. Viele haben, dem Überschwang ihrer Herzen gehorchend, Fackeln, Lichtstöcke, bunte Lampen angezündet, die sie nun im Takte der durcheinanderschallenden Chöre schwingen, noch ehe der erste Stern am Himmel das Festeszeichen winkt. Brechen die Chöre zeitweilig ab, dann wird in dem allgemeinen Summen und Rauschen ein dumpfer vielfältiger Laut vernehmbar, der aus der Tiefe der Erde zu steigen scheint. Das ist das zusammengeballte Blöken der Schafe, das Mäen der Lämmer, die in den unterirdischen Hallen und Ställen des Tempelberges zu Zehntausenden von eigenen Priesterordnungen entgegengenommen werden. Die Opfergaben der Vaterhäuser in Stadt und Land müssen gezählt, verzeichnet, mit Kennmarken versehen sein, damit die Satzung in Reinheit obwalte, kein Opfernder benachteiligt werde und das Opfer selbst makellos auf den Altar komme. Auch die Masse der Ärmeren und Armen hat heute ihre Gaben zum Tempel gebracht. Die Stelle der Jährlinge nimmt hier das zugelassene Geflügel ein. Wer auch solches nicht leisten kann, hilft sich mit dem Gebund einer gottgefälligen Feldfrucht.
Jirmijah sieht dem Treiben zu seinen Füßen noch eine Weile lang versonnen zu. Dann aber wendet er den Kopf unruhig zur Seite. Ist er unbegleitet zum Tempel gekommen? Nein, Baruch, Nerijahs Sohn, der Sechzehnjährige, sein Landsmann, hat auch den heutigen Tag des Wartens mit ihm verbracht, wie jeden Tag. In Anathot nennen sie den Knaben Baruch »Jirmijahs Schatten«. Hat sich sein Schatten wieder einmal von ihm entfernt, um eifrig in einer der Schriftrollen zu lernen, die er von dem älteren geliehen bekam? Da aber hört Jirmijah die keuchende Stimme des Jungen hinter sich. Baruch ist vom Lauf so erregt, daß sich sein Kopftuch gelöst hat und ihm im Nacken flattert. Seine Stimme überschlägt sich: »Mein Meister bereite sich ... Sie kommen, den Namen meines Meisters auszurufen ...«
Baruch hat noch keinen neuen Atem gefaßt, als drei, wie es scheint, hervorragende Gestalten eine der Predigtkanzeln betreten, die sich in Jirmijahs Nähe über den Stufen erheben. Der eine der Männer ist als königlicher Beamter in die himmelblaue Hoffarbe der Davididen gekleidet. Die beiden andern sind ein Heroldspriester und ein Posaunenpriester. Letzterer stößt ohne Umstände in sein langes Instrument, das aus einer Mischung von Gold und Silber gegossen ist. Der Heroldspriester aber ruft mehrere Namen mit dröhnender Deutlichkeit in die Menge hinaus, nach jedem ein längeres Warteschweigen einschaltend. Der letzte Name lautet:
»Jirmejahu aus Anathot, Sohn des Hilkijah aus dem Vaterhause Ebijathars, des Hohenpriesters, aus dem Vaterhause Elis, des Priesters zu Siloh ...«
Der also Angerufene, dessen Name ehrenvoll im Dunkel des Altertums verschwebt, kreuzt die Arme über der Brust und geht mit ruhigem Schritt auf die Kanzel zu. Dort bleibt er gesenkten Hauptes stehen. Er hebt, wie es sich bejahrten und hochgestellten Persönlichkeiten gegenüber geziemt, auch dann noch das Haupt nicht, als der königliche Zeremoniär und die beiden Priester ihn in die Mitte nehmen und durch die sondernde Säulenhalle hindurch in den inneren Vorhof des Tempels führen. Während dieses kurzen Ganges hat er die würdige Belehrung des Hofbeamten entgegenzunehmen:
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