Chancen zu sehen und den Mut zu haben, sie konsequent zu nutzen, unterscheidet den Macher vom Verwalter— Frank Thelen
…und gerade sind acht Kameras auf mich gerichtet, damit auch wirklich jeder Gesichtsausdruck aus jeder Perspektive eingefangen wird – und ja, ich bin ein wenig nervös. Ich sitze in den berühmten MMC-Studios in Köln. Eine Hairstylistin fixiert meine Haare mit Haarspray. Eine Make-Up-Artistin pudert mir den Glanz aus dem Gesicht. Ein Kostümbildner zupft an meinem Hemd herum – nichts wird dem Zufall überlassen. Eine faszinierende, aber auch sehr fremde Welt für jemanden wie mich, der jeden Morgen ein schwarzes Polo-Shirt anzieht, nie Anzug trägt und maximal fünf Minuten im Bad braucht.
Im Studio und davor rennen alle möglichen Leute herum: Kameramänner, Producer, Lichtdesigner, Kabelträger, Security, Fahrer, Produktionsassistenten, Redakteure, Programm-Manager, Tontechniker und andere, von denen ich keine Ahnung habe, was ihr Job ist. Eben habe ich einen jungen Kollegen gefragt, was er macht.
»Ich bin Feuerwehrmann und zünde vor jedem Auftritt das Kaminfeuer an.«
»Du bist nur für das Feuer zuständig?«, frage ich nach.
»Ja«, antwortet er, »ich bin der Feuerbeauftragte«.
Mir fehlen die Worte – unfassbar! Ich kannte bisher nur Startups, schlank organisiert, wo jeder alles macht und vieles auch manchmal etwas chaotisch ist. Hier laufen viel mehr Leute durcheinander – aber das vermeintliche Chaos ist gar keines: Es ist eine gut geölte Maschinerie von Fernsehprofis. Ich bin aber kein Fernsehprofi. Um ehrlich zu sein, sitze ich zum ersten Mal überhaupt in einem Fernsehstudio. Damit ist für mich aber auch endgültig klar: Ich muss im falschen Film sein. Wobei mir eine Eigenheit der Fernsehwelt sehr entgegenkommt: Es duzen sich alle. Aber für die anderen Aspekte dieses aufgeregten Ameisenhaufens galt in diesem Moment: Da gehöre ich nicht zu – diese Fernsehwelt hier ist aufregend und toll, aber sie ist eine andere Welt, nicht meine. Ich habe Fluchtgedanken und bin mir nicht sicher, ob ich hier rein passe.
Dabei hatte ich das Glück, in meinem Leben schon sehr viele verschiedene Welten erlebt zu haben: Ich habe mehr als einmal die Schule geschwänzt und stattdessen hinterm Bahnhof abgehangen. Ich bin tief in die Skateboard-Szene eingetaucht und habe mir dort oft die Lippe blutig geschlagen. Ich bin vom Gymnasium geflogen. Ich habe eine Firma gegründet, sie fast bis an die Börse gebracht und sie dann doch an die Wand gefahren. Ich bin von der Presse bejubelt und von Kunden beschimpft worden. Ich hatte mit Mitte 20 Millionen Schulden und stand kurz vor der Privatinsolvenz. Ich habe eine neue Firma gegründet, sie für viel Geld nach Japan verkauft und sollte dort mit Wal-Sperma auf den Erfolg anstoßen. Immer wieder habe ich gegründet, hatte Erfolg, bin wieder böse hingefallen und erneut aufgestanden. Unsere Kanzlerin hat mir einen Innovationspreis überreicht, und ich durfte als Mitglied der Bundesversammlung den Bundespräsidenten wählen. Was ich gesehen habe, reicht für mindestens drei Leben. Und jetzt sitze ich hier und soll ein »Löwe« werden, in einer von Sony Pictures produzierten Prime-Time-Fernsehsendung.
Das alles geht mir durch den Kopf, während der Regisseur laut über die Beschallung runterzählt: »Bitte Ruhe, wir legen los in drei, zwei, eins…« Und in diesem Moment der Ruhe wird mir klar, warum ich hier doch richtig bin. All die Leute um mich herum sind vergessen. Denn in wenigen Sekunden wird durch den goldenen Käfig vor mir ein junger Unternehmer hereinkommen. Er wird sein Produkt, sein Startup und seine Pläne pitchen.. Und er wird alles geben, um meine Kollegen und mich von seinem Startup zu begeistern. Vielleicht werden alle sagen, »das gibt es schon« oder »die Idee ist zu verrückt«, aber weder das eine noch das andere sind Gründe zum Aufgeben. Wenn jemand ein herausragender Kopf ist, eine gute Idee und einen überzeugenden Plan zur Umsetzung hat, dann ist keine Idee »zu groß« oder »zu klein«. Vielleicht lässt sich dieser Gründer nicht abschrecken von bürokratischem Irrsinn, von resignativer Verzweiflung, von überregulierten Vorschriften. Weil er mehr vom Leben will als seine Zeit absitzen, bis er um 16:30 Uhr Feierabend machen kann. Er will etwas bewegen in der Welt, einen kleinen oder sogar großen Fußabdruck hinterlassen. Ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht.
Überzeugt er mich, investiere ich mein Kapital, meine Zeit und Passion in ihn und seine Vision. So wie vorher in viele andere Gründer. Ich arbeite täglich mit ihnen zusammen und helfe ihnen, die Herausforderungen eines Startups zu meistern. Ich kenne die Träume, die Verzweiflung, die Umwege und Irrwege. Fast alle Fehler habe ich selbst gemacht und weiß heute, wie man sie vermeiden kann. All die dunklen Jahre, die tiefen Täler, durch die ich hindurch musste – sie waren nicht umsonst. Denn heute kann ich diese Erfahrung weitergeben. Mein ganzes Leben baue ich Startups auf – ob als Gründer oder Investor. Das ist meine DNA. Acht Kameras? Maske, Haar, Kostüm? Egal: Ich bin hier richtig. Goldrichtig sogar.
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Wie bin ich hier gelandet?
Kindheit und Jugend
Eine Kindheit in der Bundeshauptstadt
Bonn, ab 1975
Ich bin in Bad Godesberg groß geworden, einem Stadtbezirk von Bonn. Bonn in den 1980er Jahren war natürlich im Hauptberuf Bundeshauptstadt: Da war Helmut Kohl als Bundeskanzler. Da waren ein paar Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss auf der Hofgartenwiese an der Uni. Graue Beamte, Journalisten und natürlich Abgeordnete, unter denen ab 1983 die Grünen für Farbe im Bundestag sorgten. Grüne, die auf einmal im Parlament saßen und über die sich viele aufregten, weil sie Turnschuhe trugen oder während der Sitzungen strickten. Aber davon bekam ich als Kind nicht viel mit.
Bonn war tatsächlich nie so aufregend. B.O.N.N.: »Bundeshauptstadt Ohne Nennenswertes Nachtleben«, so wurde gespottet. Punk war hier nie zu Hause, der wohnte damals schon in Berlin. Der britische MI6-Agent und spätere Bestsellerautor John Le Carré schrieb in seinem Roman Eine kleine Stadt in Deutschland über Bonn: »Entweder es regnet oder die Bahnschranken sind runter.« Tatsächlich passierte meist beides gleichzeitig. Auch der Spruch »Bonn ist halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot« ist von LeCarré, und auch da war leider was dran. Bad Godesberg wiederum ist die noch gediegenere Version von Bonn – Verruchtheit und revolutionärer Aufruhr waren dort erst recht nicht zu finden. In Bad Godesberg wohnten Politiker und Beamte: Abgeordnete, Staatssekretäre, Ministerialdirigenten und viele mehr, deren Funktion ich nie verstehen werde. Und das Einzige, was mir zeigte, dass Bonn Bundeshauptstadt war, waren die Autos der Diplomaten mit den merkwürdigen Kennzeichen. Sie durften überall in der Stadt parken wie Kraut und Rüben, da sie durch ihren diplomatischen Status sogar immun gegen Parktickets waren. Und dann war da natürlich überall Polizei, was ich später als Skater ziemlich lästig fand.
Unsere Wohnung hatte ein Fenster mit direktem Blick auf die Rigal’sche Wiese, ein großes grünes Stück Rasen, auf dem mindestens einmal in der Woche ein Hubschrauber mit einem wichtigen Minister oder Diplomaten landete. Die Vibrationen konnte ich noch in meinem Kinderzimmer spüren. Damals faszinierte mich das überhaupt nicht, es war Alltag, laut und eher nervig. Aber wenn ich heute daran denke, wie mich der Gedanke beschäftigt, praktisch und unkompliziert von A nach B zu kommen – wer weiß, vielleicht hat das Echo der Hubschrauberrotoren meiner Kindheit auch eine kleine Rolle bei unserem Lilium-Investment gespielt. Doch dazu später mehr.
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