Der Mann wendet sich um und betrachtet den hochauflösenden Bildschirm, auf dem in Zeitlupe platzende Köpfe, aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, einander abwechseln und ein rotbraun wirbelndes Kaleidoskop der Auslöschung menschlichen Lebens und Leidens bilden.
„Aber was ist schon unser wehleidiges Gejammer hier, in der Festung Europa, gegenüber dem, was sich draußen an der Grenze abspielt? Luxus! Das, was Sie soeben durchlebt haben, ist die VR-Simulation real existiert habender Menschen mit all ihren bescheidenen Wünschen, Träumen und Hoffnungen, die alles andere als Luxus sind, sondern einfach nur der Wunsch nach dem sind, worauf jeder Mensch ein Anrecht haben sollte. Die Erfahrungen, die Sie vorhin gemacht haben, wurden auf Basis der elektronischen Bürgerkarte der Gefallenen und der Drohnenaufzeichnungen, die ihren Tod dokumentiert hatten, berechnet. Der Simulationsstartpunkt entspricht zeitlich und räumlich dem realen Eintritt der Flüchtlinge in die Grenzzone. Ab diesem Zeitpunkt hatten Sie die vollständige Kontrolle über Ihren Avatar: Sie haben den Angstschweiß gespürt, die aufkeimende Hoffnung, als das Trommelfeuer der Granaten kurz nachließ, das Adrenalin, das durch Ihren Körper flutete, als sie über den Wüstensand gerannt sind – und Sie hatten alle keine Chance! Und dann ist Folgendes passiert: In der Sekunde, bevor Sie das tödliche Granatengeschoss erreichte, stand Ihnen die kurze, blitzartige Erkenntnis vor Augen, dass Ihr Leben nun beendet werden wird. Wahrscheinlich waren Sie selber überrascht darüber, wie friedlich, wie ruhig und gelassen Sie in diesem Moment wurden, der nur einen Wimpernschlag gedauert haben mag. So geht es zumindest den Meisten, die mit uns diese Erfahrung geteilt haben. Und ich versichere Ihnen, dass diese Simulation all unseren Untersuchungen zufolge den realen Erlebnissen entspricht, die Menschen vor ihrem Tod durchleben. Die Gewissheit, dass die Realität endgültig den Sieg davongetragen hat, dass unsere Wünsche unerfüllt bleiben, dass wir wieder ins Nichts zurückkehren, also dahin, woher wie gekommen sind – diese Gewissheit verschafft uns Frieden.“
Der Mann wendet sich wieder zum Publikum, seine Augen blicken matt und müde in die Menge, und er scheint auf einmal Jahre älter zu sein als zu Beginn seiner Rede.
„Wir kommen aus dem Nichts, und wir gehen ins Nichts. Das Nichts ist unser natürlicher Zustand. Unterbrochen wird dieser Zustand des absoluten Friedens durch eine Phase, in der wir völlig ungefragt in eine uns unbekannte Welt kommen, die uns nicht gehört, die andere errichtet haben, in die wir hineingeworfen werden und die uns doch permanent wieder ausspucken will. Und ich will Ihnen eines sagen: Wenn Sie wie ich das Kind stolzer Eltern sind, die Ihnen vermittelt haben, wie wertvoll Sie sind und dass all Ihre Träume in Erfüllung gehen können, dann macht es die Sache nur noch schlimmer. Denn dann ist die Erkenntnis, dass die Welt nicht auf Sie gewartet hat, umso härter, umso einschneidender. Ich frage Sie, meine lieben Anwärterinnen und Anwärter: Welchen Sinn hat eine Welt, in die permanent, ohne Unterlass, neues Leben hineingepumpt wird, lauter atmendes, schwitzendes, träumendes, hoffendes, zitterndes Leben, das dazu gezwungen wird, zum Sklaven einer Welt des Leids zu werden, in der es schließlich unter Schmerzensschreien zugrunde geht? Die Menschen fürchten sich vor dem Tod, aber das ist absurd! Die Welt ist dasjenige, wovor sich die Menschen fürchten müssen! Der Tod ist, wie Sie soeben erleben durften, ein Ort des Friedens. Er ist unser natürlicher Zustand. Die Welt ist ein Ort des Schmerzes. Und wir wurden niemals gefragt, ob wir diesen Ort betreten wollen. Und was ist die Welt für ein unfreundlicher Ort! Allein um existieren zu dürfen, müssen wir leiden! Wir müssen arbeiten, wir müssen kämpfen, wir müssen uns permanent gegen anderes Leben durchsetzen, müssen es verdrängen, um in dieser übervollen Welt unseren Platz zu behaupten, um anzukommen ! Denn nicht einmal einen Platz gibt uns die Welt, wie sie uns überhaupt nichts gibt, sondern sich alles immer nur mühevoll nehmen lässt!“
Die Müdigkeit des Redners ist verschwunden. Sein Vortrag ist nun eine leidenschaftliche Ansprache.
„So viele Menschen haben schon versucht, diesen tiefen Graben zwischen unseren Wünschen und der Realität zuzuschütten, indem sie sich zu politischen Gruppierungen zusammengeschlossen haben, die unsere Wünsche wahrwerden lassen wollten. Und was war das Resultat? Millionen von Toten, noch mehr zerplatzte Träume als vorher. Heute hat selbst die Jugend endlich gelernt, dass die Welt ein widerspenstiges Miststück ist und wir froh sein können, wenn wir ihr nur die bescheidensten Wünsche abringen: Laut einer aktuellen Studie ist für 90 Prozent der heutigen Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren eine Vollzeit-Festanstellung das oberste Ziel in ihrem Leben. Wir sind bescheiden geworden, aber selbst unsere bescheidenen Ziele sind für viele von uns kaum erreichbar, auch wenn diese Ziele nicht gleich von einem Granatsplitter zerfetzt werden, wie es die Flüchtlinge der Grenzgebiete erleben müssen, für die bereits unsere bescheidensten Ziele vollkommen illusorisch sind.“
Der Redner breitet die Arme aus, eine Geste, die dafür bekannt ist, alle Zuhörer in einem Raum für den solcherart Gestikulierenden einnehmen zu wollen.
„Wir sind keine politische Bewegung. Wir versprechen nichts, was wir ohnehin nicht halten können. Wir wollen die Welt nicht verändern. Die Weltveränderer hatten ihre Chance und haben sie nicht genutzt. Letzen Endes haben diejenigen recht, die sagen: Es gibt keine Alternative. Jede Veränderung produziert nur neues Leid, und jeder Versuch, dieses Leid abzuschaffen, produziert wiederum neues Leid, und jeder Mensch, der heute glücklich ist, ist deshalb glücklich, weil andere leiden müssen. Allein jedes Kleidungsstück, das wir tragen, ist ein Glied in der Kette des Leidens. Auch dass ich hier vor Ihnen stehen darf und diese VR-Brille und diesen Bildschirm hinter mir benutze, um Ihnen mein Anliegen zu erläutern, ist das Ergebnis einer Kette des Leids, die in den Minen Afrikas und Asiens ihren Anfang nimmt und in afrikanischen Fabriken weitergesponnen wird, um auf ihrem Weg nach Europa von den verlogenen Marketingkampagnen der Elektronikhersteller vom Blut, vom Schweiß und von den Tränen reingewaschen zu werden, mit denen diese Kette des Leids geknüpft wurde. Ja – viele afrikanische Kinder müssen vielleicht nicht mehr hungern, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, in denen wir sie mit Care-Paketen statt mit Produktionsaufträgen versorgt haben. Aber was haben diese Kinder dafür gewonnen? 16-Stunden-Tage in unterirdischen Minen und lichtlosen Fabriken! Allein um zu leben, um die grundlegendsten biologischen Funktionen aufrechtzuerhalten, muss ein ghanaischer Bürger eben diese Lebensfunktionen opfern, indem er sie an uns verkauft und sie unserem heiligen Gesetz der Produktion unterordnet! Ich sage Ihnen, das ist kein Leben, das ist nur die Simulation eines Lebens! Wenn Sie demnächst in ein Kaufhaus gehen, sollten Sie sich vor Augen führen, dass hinter der grellbunten, geschäftigen Oberfläche lichtlose Fabriken stehen, in denen Menschen bis zu 16 Stunden ihrer täglichen wachen Zeit mit geisttötendster Arbeit verbringen müssen, angeschrien von den Aufsehern, die nicht einmal regelmäßige Toilettengänge zulassen, weil sämtliche biologischen Funktionen dem Konzern gehören. Jedes Mal, wenn Sie eine Ware kaufen, tauchen Sie Ihre Hände in Blut, Schweiß und Tränen, aber mit diesem Blut, mit diesem Schweiß und diesen Tränen wird keine bessere Welt erkämpft, sondern nur das einsame Glück des Konsums bezahlt, das wir unter der Herrschaft der Eurokratie genießen dürfen.“
Der Redner blickt ernst und gedankenverloren in die Menge.
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