„Ich gebe es zu: Vor Ihnen steht ein Bekehrter“, fuhr Philipp fort. „Denn es ist gar nicht selbstverständlich, dass ich hier vor Ihnen stehe und mit Ihnen zusammen den Mentalitätswandel von der Kindertagesstätte zur Kinderdienstleistungsstätte begleiten darf. Wie vielleicht einige von Ihnen auch habe ich es selber erlebt, was es bedeutet, als Kind in eine Welt der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten hineingeboren zu werden, ohne zu wissen, was man wählen soll und wie man sich überhaupt entscheiden soll. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man ständig von dem Gefühl begleitet wird, dass vielleicht noch Fähigkeiten in einem brachliegen, die nie wirklich erweckt, nie wirklich gefördert wurden. Ja, als Kind hat man so viele Träume. Der eine will Rennfahrer werden, der andere Schauspieler oder Astronaut. Die etwas reiferen Kinder wollen vielleicht Ärztin werden oder Polizist. Aber vorstellen kann man sich vieles, doch irgendwann einmal muss jeder sich entscheiden. Früher haben uns diese Entscheidung unsere Eltern abgenommen, doch heute schätzen wir unsere individuelle Freiheit, weil nur diese Freiheit uns die Möglichkeit gibt, unser tatsächliches Leistungspotenzial abzurufen, statt in ausgetretenen Pfaden leidenschaftslos auf unser Rentenalter hinzuzutrotten.“
Philipp machte eine Pause und blendete kurz seinen Redetext aus, um einen unverstellten Blick auf das Publikum zu gewinnen und sich zu vergewissern, dass er die nötige Aufmerksamkeit hatte.
„Doch was nützt uns diese Freiheit, wenn wir nicht wissen, wie wir sie einsetzen können? Wenn wir zu lange brauchen, um uns selbst und unsere Fähigkeiten kennenzulernen? Und wenn dann, wenn wir endlich wissen, was wir können, andere bereits uneinholbar an uns vorbeigezogen sind, die schon als Kind wussten, was sie können und wie sie ihre Fähigkeiten am besten einsetzen? Ich selber habe viel zu lange gebraucht, um zu entdecken, wie ich meine Fähigkeiten gewinnbringend für die Gemeinschaft einsetzen kann. Ich gehöre zu einer Generation, die in größtmöglicher Freiheit aufwuchs, und gleichzeitig gehörte ich während meines Studiums zu denjenigen, die noch nicht gänzlich von Bologna 2.0 profitiert haben und deshalb nie ein klares Ziel vor Augen hatten. Natürlich habe ich das bis zu einem gewissen Grad genossen und mir diese Freiheit und Orientierungslosigkeit schöngeredet, doch ich habe inzwischen erkannt: Freiheit ohne Orientierung, ohne Druck ist keine echte Freiheit. Und deshalb nenne ich mich einen Bekehrten – weil ich weiß, dass ich fast zum Einkommenssünder geworden wäre, aber, wenn auch spät, doch noch auf den rechten Weg gefunden habe. Ich bin dankbar dafür, dass mir unsere Regierung mit diesem Projekt die Möglichkeit gibt, gemeinsam mit Ihnen eine Zukunft zu erarbeiten, die das Wohl und die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder in den Vordergrund stellt. Damit Sie wissen, was auf Sie zukommt, wird Ihnen nun Herr Dr. Schröder von neurolingua die technischen Details des Projekts kurz erläutern.“
Philipp wartete den kurzen höflichen Applaus ab, den die Anwesenden pflichtgemäß seiner Ansprache zollten, verließ die Bühne und begrüßte einen schmal gebauten, etwa fünfzigjährigen Mann mit strähnigem Haar, der während Philipps Rede den Raum betreten hatte. Nachdem die beiden die üblichen floskelhaften Höflichkeiten ausgetauscht hatten, die sich auf die Anfahrtsschwierigkeit, das Wetter und die Umstände der Wegfindung bezogen, gab Philipp die Bühne frei für Herrn Dr. Dennis Schröder von der neurolingua GmbH, einem Unternehmen der weltweit agierenden Measure Care Group. Herr Dr. Schröder verband seine Smartbrille mit dem an der Wand angebrachten Bildschirm, blendete sein Einstellungsset ein, tippte ein wenig darauf herum und wandte sich dann an sein Publikum.
„Herr Weber hat mich ja freundlicherweise bereits vorgestellt“, begann Herr Dr. Schröder seine Rede mit der leisen, aber selbstsicheren und klaren Stimme eines Mannes, der Vorträge zu halten zwar gewohnt ist, aber keine Ambitionen hat, seine Zuhörer mehr als nötig zu fesseln oder gar die Rampensau zu spielen und ein rhetorisches Feuerwerk abzubrennen.
„Ich bin Herr Schröder von der neurolingua GmbH, und wir haben von der Bundesregierung den Auftrag bekommen, das technische Grundgerüst zu entwickeln, um das Projekt zu begleiten. Wie Sie vielleicht wissen, hat die Eurokratie bereits bei Bologna 2.0 auf die Kompetenzen von neurolingua vertraut, weshalb wir für viele Studiengänge maßgeblich bei der Gamifizierung und der Entwicklung und Durchführung der Evaluationstechniken beteiligt waren. Deshalb haben wir einige Erfahrungen in der Begleitung solcher Projekte gesammelt und freuen uns, dass wir uns in den nächsten Jahren in den Dienst der frühkindlichen Entwicklung stellen dürfen. Ich möchte Sie jetzt nicht mit technischen Details langweilen, aber Sie sollten wissen, was auf Sie und Ihre Kinder zukommt. Grafiken sagen natürlich mehr als tausend Worte, und deshalb erlaube ich mir, Ihnen ein paar harmlose Kurven und Daten zu präsentieren.“
Herr Dr. Schröder schaltete den Bildschirm ein. Zu sehen war eine Grafik, die zwei Kurven zeigte, eine rote und eine blaue, die zunächst annähernd parallel und sich teilweise überlagernd verliefen, um dann, zum rechten Ende der x-Achse hin, immer weiter auseinanderzulaufen.
„Was Sie hier sehen, sind die Ergebnisse unserer beiden Pilotprojekte in Berlin und München“, dozierte Dr. Schröder. „Die beiden Kurven bilden das Wachstum des durchschnittlichen Wortschatzes ab, den Kindergartenkinder zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr erreichen. Die rote Kurve stellt die gemittelten Ergebnisse dar, die in den fünf Jahren vor Beginn des Projekts in den beiden Pilotkindergärten gemessen wurden. Die blaue Kurve dagegen zeigt die Ergebnisse der letzten zwei Jahre, also nach Beginn des Projekts. Wie Sie sehen, verfügen Dreijährige beim Eintritt in den Kindergarten über einen aktiven Wortschatz von durchschnittlich 450 Wörtern. Hier unterscheiden sich die beiden Kurven noch nicht voneinander. Im Laufe der Zeit jedoch ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen den projektbegleiteten Kindern und den nicht projektbegleiteten Kindern, so dass gegen Ende der Kindergartenzeit bei Letzteren der Wortschatz auf etwa 2.500 Wörter angewachsen ist, wogegen der Wortschatz der durch unser Projekt begleiteten Kinder stolze 10.000 Wörter beträgt. Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass der hier gemessene Vorsprung in der sprachlichen Kompetenz bei einer guten Förderung in Grundschule und weiterführender Schule nur sehr schwer von den nicht projektbegleiteten Kindern aufzuholen ist, wodurch sich für die projektbegleiteten Kinder ein langfristiger Wettbewerbsvorteil auch im späteren Leben ergibt.“
Dr. Schröder blendete eine weitere Grafik ein, die jeweils drei Kurven in Rot und Blau zeigte, wobei auch hier die blauen Kurven zum Ende der x-Achse hin immer höher über den roten Kurven lagen. Auffällig war auch, dass die blauen Kurven über den gesamten Zeitraum relativ nahe beieinander lagen, die roten Kurven jedoch mit zunehmender Zeit eine immer größere Spreizung aufwiesen. Dr. Schröder gab seinem Publikum eine halbe Minute Zeit, um sich mit der Grafik vertraut zu machen, und fuhr dann mit seinem Vortrag fort.
„Sprachkompetenz ist natürlich nicht alles, und deshalb ist ein Kernelement unseres Projekts die sogenannte Entwicklungspfadanalyse, mit der rechnerische, musische, künstlerische, soziale und auch grundlegende praktische Kompetenzen gemessen und in regelmäßigen Abständen evaluiert werden. Was Sie hier sehen, sind die gemittelten Ergebnisse der Entwicklungspfadanalyse, und zwar für das untere, das mittlere und das obere Drittel der evaluierten Kinderschaft. Die roten Kurven geben dabei das Ergebnis der letzten fünf Jahre vor Projektbeginn wieder, wohingegen die blauen Kurven den Entwicklungspfad seit Projektbeginn beschreiben. Was Sie hier erkennen können, ist ein schlagender Beweis für den Erfolg unserer Potenzialausschöpfung durch das Projekt zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte unter Zugrundelegung der von uns entwickelten Entwicklungspfadanalyse. Wenn Sie sich fragen, warum die blauen Kurven eine so große Spreizung aufweisen, so ist eben dies ein Beleg für die nahezu vollständige Potenzialausschöpfung: Talent ist eben ungleich verteilt, und wenn sowohl die leistungsfähigsten als auch die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Kinderschaft allesamt ihr Potenzial in bestmöglicher Weise nutzen, kann dies nur zur Folge haben, dass zwar der Abstand zwischen den leistungsfähigeren und den weniger leistungsfähigeren Kindern wächst, gleichzeitig aber, und dies können Sie sehr gut in der dargestellten Grafik erkennen, das Gesamtniveau eindeutig steigt, das heißt das am wenigsten leistungsfähigste Mitglied der projektbegleiteten Kinderschaft erreicht im Laufe der Projektbegleitung im Schnitt ein höheres Leistungsniveau als das leistungsfähigste Mitglied der projektunbegleiteten Kinderschaft.“
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