Heiner Böttger - Sprachen lernen in der Pubertät

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Für die Sprachentwicklung gibt es zwei besonders wichtige Phasen: die frühe Kindheit und die Pubertät. Während die Relevanz der frühen Kindheit gut erforscht ist, erscheint die Pubertät meist nicht als die wertvolle Entwicklungsphase, die sie tatsächlich ist. Häufig sorgt sie für Irritationen, Ratlosigkeit und mitunter auch für Sprachlosigkeit.
Sprachen lernen in der Pubertät trägt durch die Erweiterung des Wissens über Vorgänge und Veränderungen im heranwachsenden Gehirn zu einer Entstigmatisierung der Pubertät bei und lädt zu einer stärkeorientierten Sichtweise ein. Im Zentrum steht dabei der Fremdsprachenunterricht bei Heranwachsenden, zu dem relevante Wissensbestände u.a. aus der Fremdsprachendidaktik, der Psychologie und vor allem aus den Neurowissenschaften zusammengetragen werden. Auf dieser Evidenz aufbauend, liefert der Band am Beispiel des Englischunterrichts konkrete Hinweise für die Gestaltung eines für die Bedürfnisse von Heranwachsenden sensiblen Fremdsprachenunterrichts.

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Heiner Böttger / Michaela Sambanis

Sprachen lernen in der Pubertät

A. Francke Verlag Tübingen

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de• info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0022-9

0. Ein Wort zuvor

Sie ist Anlass für Missverständnisse, Konflikte, Stigmatisierungen, enttäuschte Erwartungen und veritable BeziehungskrisenBeziehungskrisen. Gleichzeitig ist sie eine wahre Brutstätte von KreativitätKreativität und Genialität, von inneren wie äußeren Veränderungen und Neuschöpfungen. Sie ist Evolution und Revolution in einem.

Die Rede ist von der PubertätPubertät sowie der AdoleszenzAdoleszenz, der Grauzone zwischen Jugend und Erwachsensein. Sie bilden einen eigentlich beeindruckenden Entwicklungszeitraum, der aber, anders als z.B. die frühkindliche EntwicklungEntwicklung als ebenfalls beeindruckende Phase, nicht unbedingt für freudiges Staunen sorgt, sondern für Irritationen, Ratlosigkeit und mitunter auch Sprachlosigkeit.

Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theoriebildung, vielfältiger Beobachtungs- und Befragungserfahrungen, empirischer Untersuchungen, insbesondere der Fremdsprachendidaktik und der Erziehungswissenschaften, sowie unter Bezugnahme auf neurowissenschaftliche und ausgewählte psychologische Befunde entstand dieses Buch. Es erhebt in aller Bescheidenheit den Anspruch, zu einem besseren Verständnis dieses einzigartigen Entwicklungszeitraums beizutragen und auf dieser Grundlage den sonst oftmals eher intuitiven Handlungshinweisen für den Fremdsprachenunterricht sich auf Wissensbestände stützende zur Seite zu stellen.

Das Buch setzt bei einer Auseinandersetzung mit Wissensbeständen an, schlägt Brücken zur Praxis des Fremdsprachenunterrichts und geht dabei zahlreichen Fragen nach: Welche Prozesse laufen im Gehirn von TeenagernTeenager ab? Wie gelingt die Kommunikation mit Jugendlichen trotz scheinbarer Abgrenzung? Was bedeutet Sprache für Jugendliche und ihre IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung? Welchen Einfluss haben Peers Gleichaltrige, Peers auf den sprachlichen Lernprozess? Welche Inhalte sind für Heranwachsende relevant und damit memorierbar? Welche Rolle spielen EmotionenEmotionen, KreativitätKreativität und Strategien? Welche Rolle spielt Musik im Leben von Jugendlichen und welches Potenzial besitzt sie fürs Sprachenlernen? Wie sieht letztlich ein altersgerechter Fremdsprachenunterricht aus, welchen Prinzipien folgt er?

Diesen und weiteren Fragen stellen wir uns – und wir stellen uns ihnen ausgesprochen gerne. Denn eine gesicherte Vorinformation ist diese: Die PubertätPubertät ist eine der Lebensphasen mit dem größten Entwicklungspotenzial.

Das starke Motiv für uns beide als ehemalige Lehrkräfte und jetzige Lehrkräftebildner, als Autoren und Wissenschaftler, uns um diese spracherwerbssensible Phase zu kümmern, deren Potenzial wider besseren Wissens unterschätzt wird, ist die Sackgasse, in der vor allem die schulische Sekundarstufe steckt. Entwicklungspsychologisch, neurowissenschaftlich und auch fachdidaktisch zielgruppenorientiertes Fremdsprachenlehren und -lernen zu erforschen und zu organisieren ist immer noch eine Sisyphosaufgabe.

Wir gehen holistisch heran, wollen Grundlagen legen, dazu Zugänge und Entwicklungspotenziale aufzeigen, für das Sprachenlernen relevante Besonderheiten dieser einzigartigen Entwicklungsphase beleuchten und diese erklären. Wir möchten einerseits dafür sensibilisieren, dass manche pubertären Verhaltensweisen der HirnentwicklungHirnentwicklung zuträglich sind, dass aber andererseits auch nicht alles durch Umbauarbeiten im Gehirn zu entschuldigen ist: In manchen Fällen spiegeln z.B. die Streitbarkeit und Grenzüberschreitungen von Jugendlichen einfach nur die Erwartungen oder Befürchtungen von Erwachsenen, die es mit Pubertierenden zu tun haben.

Letztlich berühren wir im Zuge unserer Auseinandersetzung auch die methodische Ebene, wollen Aufgabenformate anbieten, die den gesicherten Befunden entsprechen und Lehrkräften, Referendaren, Studierenden, Personen in der Lehrkräfteausbildung sowie Leiterinnen und Leitern von Sprachkursen für Jugendliche Anstöße geben, um das Potenzial dieser besonderen Entwicklungsphase (neu) zu entdecken, es im Fremdsprachenunterricht zu entfalten, Freude, Gemeinschafts- und Erfolgserlebnisse im Unterricht zu ermöglichen.

Gegen Ermüdung, Entmutigung und manchmal sogar Verzweiflung der Fremdsprachenlehrkräfte zu wirken, ist lohnend. Über demokratische Unterrichtsstrukturen, Kollaboration, Kooperation und Partizipation sind Verständnis, Toleranz und Vertrauen gegenüber den sprachenlernenden Jugendlichen zu erreichen, und sie ermöglichen einen einfachen Haltungswechsel. Dieser wiederum bildet den Ansatzpunkt, den wir nach eingehender Auseinandersetzung mit dem Kenntnisstand und als langjährige Praktiker empfehlen. Das vorliegende Buch möchte, über den Weg des erweiterten Verständnisses für das, was in dieser besonderen Entwicklungsphase vor sich geht, dazu ermutigen, von einer mehr oder weniger resignierten oder auch defizitorientierten Sichtweise von PubertätPubertät und AdoleszenzAdoleszenz Abstand zu gewinnen und sie durch eine stärkenorientierte Sichtweise zu ersetzen.

Das „Wort zuvor“ möchten wir mit einem Wort des Dankes abschließen: Wir danken Anita Graeff, Dr.Urška Grum und Laura Wendland für die Durchsicht des Manuskripts bzw. die Unterstützung beim Formatieren.

Berlin/Eichstätt, im Frühjahr 2017

Heiner Böttger

Michaela Sambanis

1. Sprachrelevante neurobiologische Grundlagen

Die Veränderung der jugendlichen Psyche in der PubertätPubertät ist für Außenstehende, insbesondere für Eltern und Lehrkräfte, kaum nachvollziehbar, da sich einerseits die Motivlagen der Jugendlichen nicht rational erklären lassen und da andererseits die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit des jugendlichen Gehirns nicht konstant und in allen ArealenAreale gleichmäßig verläuft. Es ist eine programmierte Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen mit massiven Umbauprozessen im adoleszenten Gehirn.

AdoleszenzAdoleszenz definiert in etwa den Lebensabschnitt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Sie ist vom Geschlecht, der Kultur, der Ernährung und anderen Faktoren abhängig. Sie umfasst ganzheitlich die physische und mentale EntwicklungEntwicklung zum selbstständigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen.

Umso wichtiger ist es, dass sich alle für die sprachliche Bildung dieser AltersgruppeAltersgruppe Verantwortlichen um ein Basiswissen aus vielerlei Perspektiven bemühen, also holistische Kompetenzen aufbauen. Dazu gehören neben Erkenntnissen der Sprachendidaktik die der Sprachenneurodidaktik, der Neurowissenschaften sowie der Spracherwerbswissenschaft und der Entwicklungspsychologie. So entsteht eine Grundlage für begründetes, durchdachtes, professionelles sprachunterrichtliches Handeln basierend auf klaren Beweisen, nicht auf Vorurteilen, Mythen und unreflektierten Präferenzen.

Sichtbar, somit beobachtbar und spürbar, sind Veränderungen in der Psyche der sich wandelnden und entwickelnden Kinder. Diese völlige gedankliche Neuorientierung der heranwachsenden Jugendlichen hängt mit einem biologischen Erdrutsch in deren Gehirn zusammen, einer grundlegenden Reorganisation (Giedd et al. 1999: 861ff.; vgl. auch Giedd 2004: 77ff.). In dieser Zeit ermöglicht es die große Plastizität, also die Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit des adoleszenten Gehirns, dass sich Einflüsse von außen in besonderer Weise prägend auf kortikale Schaltkreise auswirken können. Die Anpassungsfähigkeit ist in der Tat enorm: Ein Verlust von Synapsen durch Verletzungen kann mit dem bestehenden Netzwerk ausgeglichen werden. Auch Sprachlerneffekte sind zu beobachten – der Muttersprachenerwerb ist abhängig von einer umfassenden SynaptogeneseSynaptogenese, die später durch die Reduktion gestärkt, stabilisiert und effizient gemacht wird. Dieses Netzwerk bildet dann die Grundlage für das weitere Fremdsprachenlernen unter institutionalisierten Bedingungen nach dem Alter von etwa vier bis fünf Jahren, wenn die EntwicklungEntwicklung der Muttersprache bezüglich Grammatik und Wortschatz im Großen und Ganzen abgeschlossen ist (vgl. Böttger 2016: 76).

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