„Was soll denn nicht stimmen?“
„Ist nur so ein Gefühl. Vielleicht irre ich mich ja auch. Ist ja noch ein Kind. Trotzdem.“
„Was genau meinst du denn?“
„Naja, also ich dachte, wenn ich schon zum Essen eingeladen werde, bring ich auch ein Geschenk für die Kleine mit, das gehört sich ja so. War nix Dolles, Babyklamotten halt. Und ich dachte, ich bring dem Jungen auch was mit, wär ja blöd, wenn nur sein kleines Schwesterlein was kriegt und er leer ausgeht. Und da ja bald Fußball-WM ist, hab ich ihm eines dieser Fußball-Sammelalben mitgebracht, du weißt schon, wo man Sticker kauft und die einklebt, bis man alle Mannschaften voll hat.“
„Ah ja, kenn ich, klar, nur dass man die nie vollkriegt, ich hatte die als Kind auch gesammelt.“
„Also ich schenk ihm dieses Sammelalbum und fünf Stickertüten, die ich ihm gleich mitgekauft habe, und was macht der Kleine? Guckt mich mit großen Augen an und fragt, wofür das gut sein soll! Ich erklär ihm also, dass es sich dabei um ein Sammelalbum handelt und er sich diese Tüten kaufen kann und mit seinen Schulkameraden die doppelten Sticker tauschen kann, bis er alles voll hat, und dass das jede Menge Spaß macht und ich das früher auch gemacht habe. Und daraufhin fragt mich der Junge, welchen Sinn das denn hätte und warum man nicht gleich die vollständigen Alben kaufen kann!“
„Na, das sind doch gar nicht so dumme Fragen.“
„Ja aber du hättest mal sehen sollen, wie der das Album angeguckt hat. Als ob das irgendein seltsames Artefakt von ´nem anderen Stern wäre! Und dann wurd´s noch komischer: Er friemelt eine der Tüten auf, pult einen der Sticker ab, klebt den auch an die richtige Stelle – irgend so ein Brasilianer war das –, schaut sich das skeptisch an und legt das Album mit den restlichen Stickern zur Seite. Ich daraufhin: Sag mal, willst du nicht den Rest einkleben? Er: Ach, ich versteh doch jetzt, wie die das meinen. Jetzt versuch mal, darauf ´ne Antwort zu finden! Ist das nicht völlig schräg?“
„Hm, vielleicht eine frühpubertäre Marotte.“
„Keine Ahnung, ich kam mir auf jeden Fall total bescheuert vor. Jeannette war das offenbar auch total peinlich, und sie hat mir dann zugeflüstert, dass der Junge wohl etwas zurückgeblieben ist für sein Alter. Der hat sich nicht mal bedankt, hat den Kram liegengelassen und sich völlig desinteressiert in sein Zimmer zurückgezogen. Ich hatte die ganze Zeit so ein komisches Gefühl bei dem. Naja, vielleicht wächst sich das ja noch aus. Ich bin froh, dass mein Sohn nicht so war in dem Alter.“
„Ach mach dir keinen Kopf. Du, ich muss jetzt mal langsam Schluss machen. Ich muss mich noch um dieses Outplacement kümmern.“
„Ah, du betreust also auch Low Performer, nicht nur High Potentials?“
„Das ist kein Low Performer, sondern ein hochqualifizierter Ingenieur, der wegen Umstrukturierungsmaßnahmen dran glauben muss. Ist leider schon Ü50, wird also nicht so einfach.“
„Na dann viel Erfolg. Meld dich mal wieder.“
„Mach ich.“
Granatenfeuer sät Pflanzen aus Staub, die aus dem kargen Wüstenboden wachsen. Das Gewitter von Flakgeschützen reinigt den Himmel. Eine Wolke aus Drohnen quillt hinter dem Horizont hervor und scannt den Boden nach Flecken atmenden und schwitzenden Lebens, dessen Reste wie Unkraut der Grenze entgegenwachsen. Die Kugeln altgedienter Maschinengewehre stochern hilflos in der Drohnenwolke herum oder werden direkt vom Nanoschichtverbund absorbiert. Oben der makellose blaue Himmel, in dessen Mitte eine gleichmäßig strahlende Sonne ruht. Unten Dutzende in schmutzige braune Tarnwesten gekleidete Menschen, die mit unter den Arm geklemmten MGs im Zickzack über den Wüstenboden rennen, unter dem wachsamen Auge des Drohnenverbands, der die Wahrscheinlichkeit jedes möglichen Laufwegs des vor Angst zitternden Lebens bereits berechnet hat, bevor sich dieses in Bewegung setzte, basierend auf den prognostizierten Einschlägen der Granaten, der Bodenbeschaffenheit, dem Steigungsgrad, dem Herdenverhalten der Gejagten und der psychologischen Anziehungskraft bestimmter Fluchtwege. Ein ungleicher Kampf. Menschliche Körper treten in das Granatfeuer und erblühen zu roten Fleischblumen, bevor sie ihren letzten Atemzug tun können. Ein Bildschirm, der immer wieder in Zeitlupe die Todessequenzen zufällig ausgewählter Teilnehmer abspielt:
Name : Hassan Gizem, Alter : 21. Ziele : Studium der Bauingenieurswissenschaften in Deutschland, drei Kinder bekommen, ein normales Leben führen
Name : Mohammed Hassan, Alter : 38, Ziele : eine Arztpraxis in Deutschland eröffnen, seine vier Kinder auf eine gute Schule schicken
Name : Murat Abdel, Alter : 16, Ziele : in Deutschland oder Frankreich Asyl beantragen, seine drei Geschwister und seine Mutter nachholen, zur Schule gehen, ein normales Leben führen
Name : Sami Khedira, Alter : 20, Ziele : in Deutschland Asyl beantragen, Chemie oder Pharmakologie studieren, seine Familie nachholen und ein normales Leben führen
Ein großer, grauhaariger, dennoch jugendlich wirkender Mann betritt die Bühne und hält eine Rede:
„Geplatzte Träume. Wenn Sie, verehrte Anwärterinnen und Anwärter, mich darum bitten würden, die Geschichte der modernen Menschheit, nämlich der Menschheit, die sich ihrer selbst bewusst geworden ist, wenn Sie mich also bitten würden, die Geschichte der sich selbst bewussten, sich als Individuen wahrnehmenden Menschheit in zwei Worten zusammenzufassen, dann, meine verehrten Anwärterinnen und Anwärter, wären es diese zwei Wörter: geplatzte Träume.“
Ein Granatsplitter zerfetzt den Kehlkopf von Yussim Muhammed, 24, Einzelhandelskaufmann, während der Redner eine wohlkalkulierte Pause einlegt, um nach der Ausblendung des braunroten Leichenschaums fortzufahren:
„Unsere Träume zerplatzen wie die Köpfe Ihrer Flüchtlingsavatare an der Grenzmauer. Jeder einzelne Ihrer Avatare ist die Simulation einst realen Lebens, das aus dem Abgrund des Nichts in diese unbarmherzige Welt gepumpt wurde, um sich hier mit Träumen vollzusaugen, die nichts weiter sind als das fragile Netzwerk neuronaler Gewebestrukturen. Ein Schuss, ein Autounfall, ein gewaltsamer Fausthieb, eine Unachtsamkeit, eine Begegnung mit der Macht der Realität – und der Traum ist tot! So viel Leben, das geboren wird, so viel Hoffnung, die in die Welt gesetzt wird, so viel Wünsche, die auf Erfüllung warten, so viel Gedanken, Gefühle, Sorge, so viel Sein, das aus dem Nirgendwo kommt und eine Welt vorfindet, die keine Heimat für all das bietet, sondern nur darauf aus ist, jeden Wunsch, jeden Traum, jede Hoffnung gewaltsam zu beschneiden, zu vernichten, bestenfalls in Stücke zu reißen, aus denen wir uns kleinere, hässlichere Träume zusammenbasteln können, eine eklige Flickschusterei, unter deren Kompromissen, Zugeständnissen und Anbiedereien die Leichen der wahren Träume und Wünsche unerfüllt vor sich hinmodern.“
Der Mann hebt eine Smartbrille hoch, ein zartes Gestell aus Silikon, das mit grünem Licht VR-Aktivität signalisiert.
„Viele glauben, sie könnten mit der heutigen Technologie Träume für jeden wahrwerden lassen. Sie, verehrte Anwärterinnen und Anwärter, kennen die Werbesprüche von Firmen wie Dreamtech, Valve, PureEmotion und wie sie alle heißen. Doch was ist das für ein schlechter Deal! Wir begraben unsere wahren Wünsche, Träume und Ambitionen, um das Geld verdienen zu können, mit denen wir uns als erbärmlichen Ersatz standardisierte Massenware kaufen, durchschaubare Reiz-Reaktionsmaschinen, durch Marktforschung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurechtgestutzt, nichts weiter als Massensedierung, um davon abzulenken, dass diese Welt nicht groß genug ist für unsere wahren Träume, für das Schwelgen, für das Unermessliche, das Verzaubert-Sein. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Diese Krücken, die uns das Erleben unserer Träume versprechen, sind einfach nur weitere Waffen, die die Realität im Kampf gegen uns und unsere Träume geschmiedet hat! Weil sie uns konditionieren, weil uns diese VR-Spiele belohnen wollen, mit diesem Punktesystem, das sich längst auf die sogenannte wirkliche Welt ausgedehnt hat, und sie belohnen uns für Leistung und die Erfüllung bestimmter Zielvorgaben, die man nur im Wettbewerb gegen andere erreichen kann. Der VR-Spieleindustrie ist damit das gelungen, worin klassische Medien wie Buch und Film versagt haben – sie hat die Kampfzone der Realität in den Bereich der Fantasie ausgedehnt, sie dort perfektioniert und dann wiederum die Realität kontaminiert. Es gibt nun kein Entkommen mehr, alles ist besetzt, wir können nur kapitulieren.“
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