Philipp fiel es einerseits schwer, sich dem Bann dieser Theorien zu entziehen, gleichzeitig versuchte er diese auch immer mit dem distanzierten Blick des soziologisch geschulten, angehenden Wissenschaftlers zu betrachten, und so erstellte er nach einigen Recherchen in diversen Foren erste Ansätze einer allgemeinen Typologie von Verschwörungstheorien, nur um nach weiteren Recherchen festzustellen, dass es so etwas schon längst gab., was ihm erneut die Nutzlosigkeit seines Praktikums vor Augen führte. Letzten Endes also wusste Philipp, dass er seine Zeit verplemperte, wenn er stundenlang das auf Dauer immer gleiche Lamentieren in den einschlägigen Foren der Verschwörungstheoretiker verfolgte, aber wenigstens hatte er dadurch seinen soziologischen Blick trainiert und die ersten Erfahrungen in der Welt moderner Arbeitssimulation gemacht.
Nach dieser Episode sammelte Philipp die restlichen Creditpoints, die ihm den Aufstieg zum Bachelor und schließlich Master ermöglichten. Seine Abschlussarbeit war weder eine Feldforschungsstudie noch eine statistische Auswertung irgendwelcher noch nie ausgewerteter Fakten, sondern eine rein theoretische Arbeit zur Analyse der sozialen Konstruktion von Alterität, Differenz und Identität mittels der linguistischen Hermeneutik des Missverstehens. Kein Thema, mit dem man Fachfremde beeindrucken konnte. Seine Gutachter jedoch schienen durchweg beeindruckt und gaben ihm die Bestnote für sein Werk, was Philipp in seinem Vorhaben bestärkte, seine akademische Karriere mit einer Promotion fortzusetzen. Seine Mutter stand wie all die Jahre zuvor bedingungslos zu seiner Entscheidung, sein Vater jedoch erlaubte sich erste Zweifel daran, ob Philipps Lebensweg für eine wirtschaftlich solide und damit moralisch einwandfreie Zukunft taugte.
„Du solltest dir schon darüber im Klaren sein, dass du irgendwann auch mal Geld verdienen musst“, sagte er. Philipp versuchte ihm daraufhin klarzumachen, dass eine akademische Karriere einen langen Atem brauche, aber eine Uni-Professur eine top bezahlte Position sei.
„Mein Junge, ich kenne so viele, die im akademischen Mittelbau versumpft sind und sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln. Das war zu meiner Zeit so und ist heute nicht viel anders! Überleg dir zweimal, ob eine Promotion wirklich das Richtige ist, bevor du zum Einkommenssünder wirst!“ So die Reaktion des Vaters, die in geradezu klassischer Manier vorhersehbare Besorgnis äußerte und damit auf ebenso klassische, ebenso vorhersehbare Weise auf Gegenwehr traf. Diese bestand darin, dass Philipp sich eines Arguments bediente, das ihn als letzten Angehörigen einer aussterbenden Art auswies, nämlich als Mitglied eines Fachbereichs, der sich zu Bologna 2.0 eine kritische Distanz bewahrt hatte und trotz aller Unterschiede eine Gemeinsamkeit aufwies mit den von Philipp so eifrig analysierten verschwörungstheoretischen Foren: Ebenso wie Letztere stellte die philosophische Fakultät, der Philipps Fachbereich angehörte, einen Raum bereit, in dem die absonderlichsten Gedanken in weltverlassener Reinheit vor sich hinblühen konnten. Und einer dieser absonderlichen Gedanken war folgender: Sein Vater müsse bedenken, so Philipp, dass man Dinge auch um ihrer selbst willen tun müsse, wenn man wirklich Erfolg haben wolle. In seiner Masterarbeit seien einige Fragen entstanden, die es noch zu klären gelte, und neue Fäden seien gesponnen, die zu Ende geknüpft werden müssten. Er könne jetzt nicht einfach von der Uni gehen und diese Themen im Stich lassen, und auch wenn kein direkter praktischer Nutzen daraus folge, so liege doch der Nutzen in der Sache selbst, was sich jedoch langfristig positiv auch auf den beruflichen Erfolg des selbstzweckhaft Handelnden auswirken werde.
Damit war es Philipp gelungen, seine Flucht vor den Zumutungen eines Bewerbungsmarathons auf dialektische Weise mit der Aussicht auf finanzielle Höhenflüge zu versöhnen. Sein Vater, der einer der letzten Vertreter des ausgedünnten Bildungsbürgertums war, hatte keine Lust, dem noch etwas entgegenzusetzen, weil er merkte, dass er sich nicht der gleichen Argumente bedienen wollte wie die Vertreter der ersten Bologna-Reform, die er mit seinen Mitstreitern damals während seines eigenen Studiums ein Semester lang versucht hatte zu bekämpfen, bis sein Widerstand von der verständnisvollen Passivität der damals Regierungsverantwortung tragenden Alt-68er-Generation zu Tode geherzt wurde – es war die erste Politikergeneration, die begriffen hatte, dass die perfekte Staatsmacht die Tür genau dann ganz weit öffnet, wenn der Mob schnaubend vor ihr steht und Anlauf nimmt, um sie einzutreten.
Seufzend stimmte sein Vater Philipps Plänen zu und gewährte ihm weitere finanzielle Unterstützung. Philipps Pläne nahmen auf vorhersehbare Weise ihren Lauf: Er brauchte fast zwei Semester, um ein Exposé für seine Doktorarbeit (vorläufiger Titel: „Das Aneinander-Vorbeireden als Basis interkultureller Kommunikation“) einzureichen. Nach zwei weiteren Semestern hatte er genug Literatur gesammelt, um aus der ersten groben Gliederung etwas zu machen, das er „vorläufige Gliederung“ nannte. Während dieser Zeit der Prokrastination wuchs das schlechte Gewissen in Philipp, und nachdem er zu Beginn seiner Forschungen auf die Frage „Was machst du zurzeit?“ mit einigem Stolz geantwortet hatte „Ich schreibe an meiner Doktorarbeit!“, wurde ihm nach und nach die im Laufe der Jahre seitens seiner Freunde und Kommilitonen zur Gewohnheit gewordene Frage „Na, was macht die Doktorarbeit?“ zur unerträglichen Last. Als auch sein Vater allmählich die Geduld zu verlieren begann und damit drohte, den Geldhahn zuzudrehen, und weil ohnehin die Zwangsexmatrikulation aufgrund der zu langen Zeit als Promotionsstudent immer näher rückte, musste Philipp sich eingestehen, dass er sechs Semester, sprich drei Jahre lang, nahezu ergebnislos vor sich hingelebt hatte, und er erkannte, dass in der ganzen Zeit, die er mit Studium und Promotion verbracht hatte, ein riesiger Haufen widerborstiger, kantiger, sich nicht seinen Wünschen und Träumen fügender Realität aufgeschüttet worden war, der nun zwischen ihm und einer halbwegs erträglichen Zukunft lag. Dieser Haufen drang nun allmählich in das Gebälk seines Luftschlosses ein, und zwar in Form all der kleinen Drohungen und schwer zu ignorierenden Zumutungen, mit denen die moderne Gesellschaft ihre Mitglieder daran erinnert, ihre Existenz in irgendeiner Weise zu rechtfertigen.
Wieso bist du eigentlich hier? rief ihm ein Schreiben seiner Rentenversicherung zu, das ihm offenbarte, dass er beim gegenwärtigen Stand der Dinge sein Alter in Armut verbringen durfte. Glaubst du, du bist zum Spaß geboren worden? wollte die Krankenversicherung wissen, die ihn an seine gestiegenen finanziellen Pflichten gegenüber der Solidargemeinschaft erinnerte, nachdem Philipp sich nicht mehr zurückgemeldet hatte und damit endgültig, nach sieben Semestern Promotionsstudium, exmatrikuliert worden war. Was denkst du eigentlich, wo das alles hinführen soll? Willst du wirklich zum Einkommenssünder werden? So der unausgesprochene Vorwurf eines amtlichen Schreibens des nächstgelegenen Jobcenters, nachdem Philipp sich arbeitslos gemeldet hatte.
Und schließlich die Frage aller Fragen: „Was wollen Sie eigentlich damit machen?“ So die örtliche Jobcenter-Mitarbeiterin zu Philipp, die ihn mit sanfter, aber unverhohlener Drohung (Leistungskürzungen im Falle seiner Weigerung, die Einladung anzunehmen, ein Angebot, das Philipp schlecht ablehnen konnte) zu einem ersten Termin eingeladen hatte und seinen Lebenslauf begutachtete. Immerhin durchschaute Philipp nach einiger Zeit die Spielregeln, die es auf dem Weg zu einer festen Arbeitsstelle einzuhalten galt. Insbesondere der Lebenslauf schien unglaublich wichtig zu sein, und vor allem galt es „Lücken im Lebenslauf“ zu vermeiden. „Lücken im Lebenslauf“ waren so etwas wie das Schreckgespenst aller Arbeitslosen, das Letztere permanent auf Trab hielt: Aufklaffende „Lücken im Lebenslauf“ wurden ab einer bestimmten Größe mit allerlei Beschäftigungssimulationsstrategien gefüllt. Dazu gehörten Fortbildungen, „Mini-Jobs“, Ein-Euro-Jobs oder schlichtweg eine blumig ausschmückende Umschreibung beschäftigungsloser Zeiten. Der über all dem stehende kategorische Imperativ lautete, so Philipps Erkenntnis nach einem halben Jahr ergebnisloser Jobsuche: Beschreibe deine Lebenszeit so, dass die Maxime deines Lebens dich als ein jederzeit von aktiven Wollensvorstellungen, nach Handlungen lechzendes und von selbigen nahezu zur Gänze ausgefülltes Subjekt erscheinen lässt – auch dann, wenn dich alles ankotzt und du deinen Hintern nicht hochkriegst.
Читать дальше