Impressum
Copyright: © 2014 epubli
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN: 978-3-7375-1880-2
Brücken bauen.
Mauern einreißen.
Vorwort
epubli
Klopfende Herzen, feste Umarmungen und knatternde Trabis – das kommt all denen bekannt vor, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer hautnah miterlebten oder in den Medien verfolgten. Auch 25 Jahre später hat der historische Tag nichts an Bedeutung und Emotionalität eingebüßt. Wir sind der Meinung, dass jede einzelne Erinnerung an diese Zeit wichtig ist und riefen anlässlich des Jubiläums im Jahr 2014 dazu auf, persönliche Geschichten und Momente mit uns zu teilen. So wurden viele Menschen unverhofft, schnell und ganz unkompliziert zu Autorinnen und Autoren in diesem Buch, ganz im Sinne des Self-Publishings. Die Beiträge bieten einen spannenden und emotionalen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Teilung, der vielfältige Denkanstöße liefert.
Wir reisten mir unserem Projekt zur Frankfurter Buchmesse 2014 und waren am Jubiläumswochenende im Berlin Story Bunker vor Ort. Nach diesen anstrengenden und vor allem schönen Wochen freuen wir uns sehr über das einmalige Ergebnis, das Ihnen nun vorliegt: das Buch „Brücken bauen. Mauern einreißen.“
Wir danken allen Teilnehmern ganz herzlich dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Gedanken mit uns und der Öffentlichkeit geteilt haben. Die Projektkoordinatorinnen
Trennung, Ohnmacht,
Entdeckungen
Die Zeit vor dem Mauerfall
Wer war Ilona Rose
Annerose Scheidig
Frau Ilona Rose war eine rothaarige, hübsch aussehende Frau im mittleren Alter. Anna vermutete, in ihr eine interessante Persönlichkeit zu finden, und meinte, es müsse sich lohnen, mehr über diese Frau zu erfahren. Sie begann Frau Ilona Rose, die ehelos lebte, drei Kinder hatte und hin und wieder Herrenbesuch bekam, zu beobachten.
Annas Mutter lebte auch mit vier Kindern alleine und zu ihr kam hin und wieder ein Mann zu Besuch. Zu ihm sollte Anna »Onkel« sagen. Aber das war etwas anderes, denn diesen Mann kannte Anna und er gehörte irgendwie zur Mutter.
Frau Ilona Rose und Annas Mutter plauderten oft stundenlang im Treppenhaus. Das hörte sich zuweilen an, als ständen mehrere Frauen zusammen, so eilig gingen Worte und Gelächter hin und her. Frau Ilona Rose sprach schrill und schnell, Annas Mutter sanft und gedämpft; sie tuschelten oft, so, als gäbe es etwas zu verheimlichen. Dabei fiel Anna auf, dass ihre Mutter im Gesicht viel jünger aussah, obwohl sie die Ältere von beiden war. Doch was die Kleidung betraf, da sah Frau Ilona Rose jünger aus, und das erschien Anna recht sonderbar.
Die beiden Frauen lachten viel und zankten sich manchmal. Waren sie zerstritten, dann hörte Anna komische Worte wie: »Die Hure da oben...« Das verstand Anna nicht und sie wollte herausfinden, was eine Hure war. Also saß sie bald öfter und länger am Fenster und beobachtete Frau Ilona Rose und ihre Kinder noch genauer. Sie erkannte bald: Die vier dort oben schienen recht sonderbar zu sein! Dagmar war schüchtern und konnte niemandem in die Augen sehen. Sie war rundlich, wirkte langweilig, hatte dunkle Haare und traurige braune Augen. Elke war hibbelig, dünn, rothaarig, mit trotzigen grünen Augen. Und Michael, der Jüngste, war blondgelockt mit träumerischen blauen Augen. Ein niedliches Kerlchen, das aber furchtbar stotterte. Er sei vom Wickeltisch gefallen, hieß es. Im Gegensatz zur Mutter wirkten alle drei vernachlässigt, äußerlich wie auch innerlich.
Oft wurde es oben in der Wohnung laut, und zumeist waren es die Stimmen der Herrenbesuche. Aufgrund dessen hörte Anna einmal ein Streitgespräch zwischen ihrer Mutter und den Großeltern, in dem die Mutter die zornige Frage stellte: »Warum schmeißt ihr sie nicht raus, wenn ihr euch so aufregt?« Sie hörte die Oma antworten: »Wer nimmt sie, wer weiß, wo sie bleibt. Sieh, die Kinder, ist das nicht schlimm genug? Wie oft sind sie alleine. Hier guckt wenigstens mal einer nach ihnen. Michael, der arme Tropf, ist schon verstört genug!« Dann wurde leiser gesprochen, was Anna neugieriger machte. Sie musste das Ohr an die Tür legen, um besser verstehen zu können. Aber das mochte sie eigentlich nicht, darum entschied sie, einfach wie gewohnt in Omas Wohnung zu gehen, um den Dreien ein bisschen näher zu sein. Leider ohne Erfolg; das Gespräch wurde abrupt beendet. Wenn sie noch mehr erfahren wollte, musste ein Plan her und sie beschloss, sich mit Elke anzufreunden.
Elkes verrücktes Wesen war leider extrem anstrengend. Sobald sich Anna ihr näherte, lief diese wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Also begann Anna, Elke weniger zu beachten und suchte den Kontakt zu Dagmar. Ihre Gedanken dabei waren, Elke aus den Augenwinkeln zu beobachten, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Dagi zögerte, sie wollte sich auf Anna einlassen, blieb aber durch Elkes Gegenwart gehemmt. Elke hielt Abstand und musterte Anna, was Anna genoss, aber nicht so recht verstand, schon gar nicht die drohenden Blicke Dagi gegenüber.
Anna bat ihre ältere Schwester Lina um Rat. Lina meinte mit ablehnender Handbewegung: »Wenn du mit Elke spielen willst, gehst du am besten morgens nach oben. Die Alte schläft dann. Die ist nachts auf Ritt und kommt erst morgens, so gegen fünf, nach Hause. Elke kann dann nicht abhauen, sie muss auf Mike aufpassen. Der hat einen ganz schönen Knall, der rastet oft aus, und Dagi ist ein Angsthase. Da muss Elke hinhalten, damit die Alte pennen kann!« Anna erschrak über diese Art von Erklärungen nicht mehr. Sie bekam immer häufiger mit, wie mal schlecht, mal gut über Frau Ilona Rose gesprochen wurde, je nach Stimmung im Haus.
Eines Morgens schlich Anna mit starkem Herzklopfen die steile Holztreppe nach oben. Sie wusste genau, welche Stufen knarrten. Mühevoll überstieg sie diese; niemand durfte vorgewarnt werden. Doch dann verließ sie der Mut und sie rannte wieder nach unten in die elterliche Wohnung. Dort warf sie sich aufgeregt in den Wohnzimmersessel. Glücklicherweise war niemand da, denn sie schämte sich fürchterlich für ihre Feigheit. Den Kopf in beide Händen versteckt, schrie es in ihr: »Nein, ich bin nicht feige, nein, nein, nein!«
Am nächsten Morgen startete sie den zweiten Versuch. Sie schlich, mit etwas weniger Herzklopfen als am Vortag, die steile Holztreppe nach oben. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Keine Reaktion. Mutig klopfte sie das zweite Mal fester. Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Michael stand direkt vor ihr und sechs weit aufgespannte Augen starrten sie an.
Jetzt gibt es kein Zurück, dachte Anna panisch und rief schnell ein freundliches »Guten Morgen« über Michaels Kopf in die Stube hinein. Sogleich wurden die Blicke eine Spur ängstlicher und bohrender. Anna sah schnell ablenkend zu Michael hinunter. Ein plötzliches und liebenswürdiges »Komm doch rein« erinnerte Anna, warum sie überhaupt an diese Tür klopfte.
»Ich, ich wollte mal gucken, wie, wie es euch, äh, Ihnen geht«, stotterte Anna und fühlte sich ertappt. Die Frau und Mutter, die eigentlich schlief, bot ihr schlaftrunken einen Platz am Tisch an: »Magst du ein Brötchen? Hier ist Wurst, da Käse. Möchtest du Milch oder Kaffee?« Anna lehnte dankend ab.
Frau Rose schwankte im Morgenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt, ungekämmt, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, plump auf ihren Stuhl zu. Neben ihrer Kaffeetasse standen ein Schnapsglas und eine fast leere Schnapsflasche. Gutmütige, müde Augen musterten den Gast; hängende Mundwinkel bliesen den Zigarettenqualm an ihm vorbei. Das Gesicht der Frau sah jetzt noch älter aus.
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