In der Bio – Stunde dozierte ein angegrauter Lahmarsch monatelang über die Systematik der Insekten, seine halbleise, monotone Stimme wirkte wie ein Wiegenlied … Mundwerkzeuge beissend, saugend, stechend, leckend … ja leck mir …
Und wenn mich sechs Jahre später ein kleiner Schüler fragt, ob die Waschbären auch Fleisch fressen, weiss ich nicht einmal in welchem Buch ich nachschlagen kann.
(Statt der Wikipedia gab’s damals nur so riesige, mindestens sechsbändige Lexika.)
Die einzige spannende Stunde war Mathematik. Da war wenigstens die Lehrerin für mich ein Grund keine Lektion zu verpassen, aber auch der Stoff war spannend und faszinierend und wenn ich es einmal zu einfach fand, dann hatte mir die „rote Dame“ eine extra schwierige Hausaufgabe an der ich mir die Zähne ausbeissen konnte. Manchmal musste ich mich schon zusammenreissen um mich auf die Mathe zu konzentrieren, wenn sie da vor uns stand, vielleicht in ihrem gelbgrünen Kleid, grazil wie eine Antilope, mit ihrem schwebenden Gang, mit ihrem schlanken, mädchenhaften Körper … und wenn dich diese grünen Augen anblickten, wenn du ihre warme, weiche Stimme hörtest, da erstarrte man einfach wie das Kaninchen vor der Schlange mit dem einzigen Wunsch : gefressen zu werden …
Zuhause summierten sich inzwischen die Probleme. Auf dem Weg zur Arbeit auf dem Fahrrad wurde meine Mutter von einem Auto von der Strasse gedrängt und stürzte in den Seitengraben. Ausser Prellungen und einem Rippenbruch war die rechte Wade eine einzige riesige Fleischwunde. Da sich der Fahrer gleich davongemacht hatte blieb meiner Mutter ausser einer nie mehr heilenden Wunde auch noch die Arzt- und Spitalrechnung zu bezahlen.
Auch der Vater hatte immer mehr Probleme mit seiner Zementallergie, und er konnte immer weniger Aufträge annehmen.
Mir war klar, dass ich mithelfen musste, damit wir finanziell über die Runden kamen, meine Arbeit während der Ferien verschafften mir bestenfalls mein Taschengeld, das mir ein frugales Mittagsmahl erlaubte. Etwas Milch, Brot, vielleicht mal eine Wurst, die ich auf dem, der Schule angrenzenden alten Friedhof verzehrte.
Es war ein romantischer, ja geheimnisvoller Park mit riesigen alten Bäumen, grossen Rhododendronbüschen, bemoosten Grabsteinen und mit einer zerfallenden Grabkapelle mittendrin.
Im „Stadtanzeiger“ fiel mir ein kleines Inserat auf bei den Stellenangeboten, es war in der unverkennbar rührenden Rechtschreibung eines Italieners abgefasst. Er suchte jemanden, der ihm bei der Korrespondenz mit den Behörden half. Das schien mir der richtige Job für mich zu sein. In einer Freistunde am Morgen fuhr ich hin.
Es handelte sich um ein verrusstes, rauchiges Bierlokal an der Steinberggasse, also mitten in der Altstadt, wo noch ein Hauch von Echtheit geblieben ist.
Es war noch geschlossen aber auf mein Klopfen öffnete sich sofort die Türe. Eine echte Italienermamma musterte mich mit strengem Blick, doch als sie erfuhr, weswegen ich gekommen war, zog sie mich gleich in die Wirtsstube und rief ihrem Mann : „O, Giuseppe, vieni !“
Dann fragte sie mich, ob ich schon gefrühstückt habe und ohne meine Antwort abzuwarten machte sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und schleppte Brötchen herbei. Sie fragte mich nach meinem Namen und meinte dann, sie werde mich Giovanni nennen, das sei einfacher für sie.
Ihr Name sei Maria und ihr Mann, der gerade hereinkam, sei Giuseppe und ihr Sohn, der Antonio sei in der Schule. Er sei Studente, drüben im Altstadtschulhaus, er sei bravo und lerne gut Deutsch. (Er war damals ein sechsjähriger Erstklässler, dieser „Studente“)
Ich begann meine Arbeit als Dolmetscher (und lernte dabei Italienisch), wenn Beppe auf ein Amt musste, erledigte seine Korrespondenz und den ganzen amtlichen Papierkrieg. Die Buchhaltung kam dann auch noch in mein Pflichtenheft, am Samstagabend bediente ich als Kellner und wenn es nötig war, half ich dem kleinen Toni bei seinen Hausaufgaben und trainierte ihn in der deutschen Sprache.
Über der Kneipe waren noch drei Wohnungen, die den altstädtischen Charme behalten hatten, das heisst sie waren total heruntergekommen und ohne jeglichen Komfort. Immerhin gab es ein Klosett und einen Kalt - Wasserhahn in der Küche.
Im ersten Stock wohnte die Wirtsfamilie, darüber hausten drei Studenten des Technikums und in der dunkeln Zweizimmer - Dachwohnung, mit ihren stilechten Abschrägungen, der wirksamen Dachheizung im Sommer und der eisigen Frischluftzufuhr im Winter zog ich schliesslich ein. Der bescheidene Zins von zwanzig Franken pro Monat war auch für meine Verhältnisse bezahlbar.
Für mich war das ein Glücksfall, denn mein täglicher Reiseweg hatte sich um Stunden verkürzt, meine Eltern wurden entlastet und ich hatte meine Autonomie gewonnen. Ich brauchte freilich auch wieder Zeit um mich in meine neue Arbeit einzuleben, denn das war alles Neuland für mich, dieser Papierkrieg, Buchhaltung und Steuererklärung , aber ich bekam unverhofft und zufällig Hilfe von kompetenter Seite, von einer Ex - Schulfreundin, von Margrit, die sich in dieser Materie ausbilden liess.
Wenn wir an scheinbar unlösbare Probleme stiessen, konnte sie ihre Lehrer um Hilfe bitten, die uns halfen. Mit der Zeit machte mir diese „Zahlenbeigerei“ sogar Freude und ich war auf die tadellose Buchführung der Kneipe mächtig stolz.
Den Friedhof neben der Schule besuchte ich fast täglich. Manchmal setzte ich mich für einige Zeit unter einen der mächtigen Bäume um auszuruhen und um neue Kraft zu schöpfen. Ich hatte das Gefühl, dass von den dicken Stämmen eine Kraft ausging, die man auf sich einwirken lassen konnte. Wenn ich die Stirne an die raue Borke drückte, fühlte ich als erstes die Beschaffenheit des Materials, ein schwacher Schmerz auf der Haut, dann kam die Kühle, die sich langsam in meiner Stirne ausbreitete und dann plötzlich ein Strom von Ruhe und Frieden und Entspannung. Nach einigen Minuten drang eine Kraft in mich ein, die mich glücklich machte, die mich stärkte und meine Gedanken wurden wieder klar, der Verstand wurde scharf, kritisch und analysierend.
Manchmal setzte ich mich ins Gras (oder den Schnee), lehnte mich an einen dieser Stämme, schloss die Augen und liess meinen Gedanken freien Lauf und gab mich dem Rauschen oder Geflüster des Laubes hin.
Meistens schlief ich dann ein und wachte, wenige Minuten später wieder auf und fühlte mich dann frisch und gestärkt und voller Lebenslust.
Einmal lag ich in einer dunkeln Taxus – Hecke und versuchte mich an einem mathematischen Problem, das mir „Barbara“ am Morgen zugesteckt hatte, aber ich wurde immer wieder abgelenkt durch Kindergeschrei.
Dann sah ich auf dem Kiesweg eine lustige Prozession. Vorneweg zwei kleine Jungen mit Blumenkränzen im Haar und jeder hatte eine Zeitung, die zu einer Tüte gedreht war vor dem Mund und mit lautem Tuten markierten sie die Trompeter. Hinter ihnen schritt ein kleines Mädchen mit einem Blatt des Riesenkerbels als Sonnenschirm und streute Blumen auf den Weg. Dann kam eine junge Frau mit einem Kinderwagen mit zwei ganz kleinen Kindern, die zufrieden in die Welt hinausträllerten. Es war eine Augenweide, es war wie ein Bild aus alten Kinderbüchern.
Schliesslich schwenkte der Zug auf den Weg ein, an dem ich sass und als die Truppe näher kam, schaute ich etwas genauer hin. Diese junge Frau, das war doch Josefine, eine Mitschülerin, still und fast unsichtbar, am Ende der dritten Bankreihe, ja, es war tatsächlich Josy.
Mit ihren Geschwistern war sie streng und sehr lieb. Sie hatte unendlich viele Ideen, wie sie die kleine Bande in Trab halten konnte. Da wurde ein Raupe auf einem Blatt beobachtet, ein morscher Baumstamm, der am Boden lag war mal eine Kutsche, dann ein Berg, den es zu besteigen galt und dann ein Elefantenrücken auf dem man reiten konnte und schliesslich noch das hohe Seil im Zirkus auf dem die Kleinen ihre Balanceakte aufführen konnten. Und so ging es durch den ganzen Park.
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