Sandra
Johann Widmer
SANDRA
LEBENSGESCHICHTEN
Band 4
Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.
© Stiftung Augustine und Johann Widmer
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www.johann-widmer.ch
ISBN: siehe Umschlag
1. Auflage 2019, Band 4
Zum vierten Band
Misserfolge gehören auch zu unserem Leben, das erfährt man schon in jungen Jahren. Da genügen ein paar Bauklötze, die den Gesetzen der Statik nicht trotzen können.
Ich kann nun die Bauklötze voller Wut in die Ecke schmeissen, aber ich kann auch geduldig mein Bauwerk nochmals aufbauen, diesmal die Gesetze der Schwerkraft beachtend und gelange zu einem Erfolgserlebnis.
Es kommt sehr darauf an, wie ich mit Erfolg, Misserfolg, Tiefschlägen, Lob und Tadel oder Schicksalsschlag umgehe. Ich kann kapitulieren, den Kopf in den Sand stecken und im Sumpf des Selbstmitleids ertrinken, aber ich kann auch wieder aufstehen, kann mich wehren, kann dem Schicksal trotzen. Dabei riskiere ich vielleicht alles, aber ich habe auch die Chance, alles zu gewinnen.
Wir haben die Wahl: Spieler oder Spielball zu sein.
Und wenn das Leben seine eigenen Wege geht kann man immer noch träumen.
In der Erinnerung liegen Traum und Wirklichkeit oft sehr nahe.
Meine Erinnerungen an meine früheste Kindheit sind meist von einem leichten weissen Schleier bedeckt oder sie liegen irgendwie im Schatten, wo die Farben dunkler und die Umrisse unklar und undeutlich sind. Erinnerungssplitter mit leeren Zwischenräumen.
Wertungen kamen erst später hinzu und die Bewertung jener Zeit ist immer ein Akt der Gegenwart.
Ich war ein Einzelkind, meine Umgebung war eine enge Wohnung mit vielen dunkeln Ecken und da war meine Mutter, eine dicke, schwer schnaufende Frau, ein leeres Gesicht mit zwei funkelnden Augen, die alles sahen und alles wussten und alles regierten.
Und da war Vater, diese leicht gekrümmte Figur mit krausem Haar und zu weiten Kleidern. Er „schlotterte“ in seinen Kleidern, sass vornübergebeugt am Tisch und löffelte schlürfend seine Suppe. Man sah nur seinen wirren Haarschopf und den glänzenden Löffel, der regelmässig wie eine Maschine in der Suppe untertauchte, dann wieder hervorkam, tropfend und manchmal mit Gemüsefetzen behangen hochstieg, dann dieses einsaugende schlürfende Geräusch verursachte um dann wieder in der Brühe unterzutauchen.
Wenn ich einmal zu schlürfen versuchte, schlug mich Mutters Löffel schmerzhaft auf meine Finger.
„Iss anständig“ oder „man schlürft nicht beim Essen“ oder gar „nur Schweine schlürfen“ war die Begleitmusik dazu, aber es wäre mir nie eingefallen den Faden weiterzuspinnen oder gar Schlüsse aus den Ermahnungen zu ziehen.
Dass das Essen karg und eintönig war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Es gab eigentlich immer Kartoffeln auf die eine oder andere Art, denn Kartoffeln bekam man ohne Lebensmittelmarken und Kartoffeln waren billig. Mutter verstand es unser Essen abwechslungsreich zu machen, mal gab es Pellkartoffeln (die Schalen mussten mitgegessen werden), mal Bratkartoffeln, mal Kartoffelsuppe, mal Salzkartoffeln, mal Kartoffelsalat (meine Leibspeise), mal Kartoffelstock und meistens gab es „Rösti“ das Nationalgericht in der deutschem Schweiz. Sogar im Brot waren Kartoffeln mit drin.
In der Rösti wurde oft ein Stück Speckschwarte mit-gebraten und das machte die Speise so fein und lecker.
Beim Mittagessen war meistens noch Gemüse dabei. Je nachdem was unser Garten hergab, aber Vater ass nur gekochtes Grünzeug und so verschwand der Kopfsalat wie der Weisskohl und die Karotten in der Suppe. Fleisch war höchstens einmal an einem Sonntag auf dem Teller, meist als Wurst oder Siedefleisch, alles andere war zu teuer.
Mutter tauschte die Fleischmarken mit einer Nachbarin gegen Milchmarken, damit ich regelmässig meine Tasse Milch kriegte.
Dass in den Nachbarhäusern ganz andere Lebensumstände herrschten, erfuhr ich erst viel später. Meine Welt beschränkte sich vor allem auf unser Wohnzimmer und die Aussenwelt bestand vor allem aus den Bildern, die mich durch die Fenster erreichten.
Unsere Wohnung lag im ersten Stock, direkt über der Schreinerei, wo mein Vater arbeitete. Eine steile Holztreppe führte auf der Nordseite des Hauses an der Wand hoch zu einem Laubengang, von dem aus man unsere Wohnung betreten konnte. Eine weitere Türe etwas weiter hinten führte ins Holzlager und am Ende der Laube befand sich das „Häuschen“, dessen Türe mit einem ausgesägten Herz verziert war. Ein eindeutiger Geruch verriet den Zweck dieser Anlage.
Der „Gang aufs Häuschen“ war im Winter, vor allem nachts, ein Abenteuer und eine Mutprobe. Auf der Laube herrschte Dunkelheit und eisige Kälte, manchmal fegte sogar ein Schneesturm ums Haus. Am Boden lag Schnee, manchmal so hoch, dass man die Türe nicht aufmachen konnte und Hilfe holen musste.
Schlimm war auch das steife und harte Klopapier mit dem man sich am Hintern verletzen konnte. Immerhin hatte es auch seine guten Seiten: Man konnte auf dem Klo Zeitung lesen weil das Papier aus der Zeitung geschnitten wurde. Dadurch wurden die Texte verstümmelt und es machte mir Spass, das Fehlende „hinzu zu denken“.
Vom Wohnzimmer aus konnte man auf drei Seiten hinausschauen. Gegen Norden sah man den grossen Baumgarten des Nachbarn und dahinter einen, ebenfalls mit Obstbäumen bewachsenen Hügel, im Fenster der Ostseite sah man eine kleine Wiese mit einem Birnbaum mittendrin und dahinter das Nachbarhaus. Es war eine kahle Fensterfront und unten eine Türe, die direkt in die Küche führte.
Manchmal war diese Türe geöffnet und ein kleines Mädchen, Ida, sass auf der Schwelle.
Sie gehörte einfach in dieses Bild und wenn sie nicht da war fehlte mir etwas.
Manchmal winkte ich ihr zu durch die geschlossenen Fenster, aber sie sah mich nie, sie war in ihr eigenes Spiel vertieft, das ich aber nicht nachvollziehen konnte. Manchmal spielte sie mit einer Holzkelle, manchmal war es ein grosser Schöpflöffel einmal war es sogar eine junge Katze.
Ich hatte anderes Spielzeug. Ich hatte eine Riesenkiste voll bunter, hölzerner Bauklötze, die mir mein Vater gemacht hatte. Ich konnte damit Türme bauen, die grösser waren als ich selber. Und dann liess ich sie mit Getöse und gleichzeitig wundem Herzen, wieder einstürzen.
Zwischen Ida und mir lag aber die Treppe, diese unendlich lange, steile und hohe Treppe, vor der ich mich fürchtete. Wenn ich hinuntersah wurde mir schwindlig.
Manchmal nahm mich die Mutter mit, wenn sie im Dorf einkaufen ging. Dann hielt sie mich an der einen Hand fest und mit der andern konnte ich den Handlauf an der Wand knapp erreichen und dann ging es Stufe um Stufe in die Tiefe, dabei hielt ich meine Augen krampfhaft verschlossen bis wir unten waren.
An einem Tag war das Ostfenster versehentlich offen. Eine herrlich frische Luft drang herein und verdrängte den Geruch von Holzstaub, Sägemehl und Tischlerleim der in unserer Wohnung immer gegenwärtig war.
Als ich durch die Fensteröffnung schaute, sah ich Ida auf der Türschwelle sitzen.
Ich winkte ihr verstohlen zu.
Keine Reaktion.
Ein zweiter Versuch war ebenso erfolglos.
Dann begann ich zu miauen wie eine Katze.
Jetzt schaute sie hoch und winkte mir zu und rief: „Komm herunter.“
Ich zuckte die Achsel und miaute wieder.
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