Beide Männer lachen herzlich.
„Was geschieht mit dem Mann am Straßenrand?“
„Nichts. Ein Ochsenkarren wird ihn mitnehmen.“
„Wie ist das mit der Schlange überhaupt passiert?“, möchte Max dann wissen. „Sie waren doch hinten im Bus, wo das Tier ausgebrochen ist.“
„Durch die wilde Fahrerei ist der Korb aufgesprungen, in dem der Schlangenbeschwörer das Reptil transportiert hat.“
„Und wie ist die Schlange zurück in den Korb gekommen?“
„Sie wurde wieder hineingesteckt,“ sagt Karunarathne gedehnt – so, als ginge ihn das gar nichts an.
„Wer hat sie eingefangen?“, hakt Max nach.
Karunarathne gibt jetzt keine Antwort.
„War es eine giftige Schlange?“ Wieder keine Reaktion.
‚Ob er mein Englisch nicht versteht?’, geht es Max durch den Kopf. ‚Hat er abgehoben? Hab ich ihn verärgert?’
Über seine außergewöhnlichen Fähigkeiten spricht Karunarathne nicht gern. Weder den Zeitpunkt noch den Ort, Debatten über übernatürliche Kräfte zu führen, lässt er sich aufzwingen. Max wartet noch ein wenig – bis es ihm dämmert: die fehlende Antwort ist nicht auf mangelnde englische Sprachkenntnisse zurückzuführen. ‚Der Dicke redet absichtlich nicht!’
Minuten vergehen. Auch Max schweigt. Karunarathnes Blick schweift zu dem blonden Ausländer, dessen randlose Sonnenbrille ihn aussehen lässt wie einen Professor.
‚Neugierig ist er. Und hartnäckig wohl auch. Tourist? Eher nicht,’ entscheidet Karunarathne. Und dann fragt er unvermittelt, in freundlichem Ton, die lange Pause ignorierend:
„Woher kommen Sie? Sind Sie geschäftlich hier?“ Und dann ganz verbindlich:
„Normalerweise fahren die Touristen in großen Gruppen durchs Land, in klimatisierten Luxusbussen, mit mehrsprachigen Fremdenführern.“
‚Warum weicht er meinen Fragen aus und erwartet, dass ich seine beantworte?’ Erst neulich hat Messalina ihm aufs Butterbrot geschmiert: „Mäxchen, wenn du mit Leuten redest, ist das wie ein Verhör im Polizeipräsidium. Immer willst du alles ganz genau wissen. Wenn dich aber jemand mal ganz nett und zwanglos was fragt, reagierst du allergisch.“
„Ich komme aus Deutschland. Wohne in Kandy - vorübergehend. Wir haben ein Haus am See gemietet,“ antwortet Max höflich.
„Wo am See?“, will Karunarathne erfahren.
„Gegenüber der großen Buddha-Statue, die nachts von Scheinwerfern angestrahlt wird."
„Das ist ganz in der Nähe von meinem Büro,“ entgegnet Karunarathne.
Dann versandet das Gespräch wieder. Max schaut auf die Uhr. ‚Die Sache mit der Schlange hat uns zu lange aufgehalten,’ muss er erkennnen. Den Termin im Investitions- Büro wird er auf keinen Fall einhalten können.
Der Bus überwindet die letzten Hindernisse auf den verstopften Strassen und fährt dann auf einen weiträumigen Platz hinter unansehnlichen Mauern. Es riecht nach Dieselmotoren, Auspuffabgasen und den nicht vorhandenen Toiletten. Straßenverkäufer versuchen lautstark, Getränke, die sie mit Eisstücken kühlen, an den Mann oder die Frau zu bringen. Ein junger Mann mit Strohhut, die Gitarre unter dem Arm, hat es auf die wartenden Busse abgesehen. Max und Karunarathne verabschieden sich flüchtig von einander.
„Muss mich beeilen. Über Mittag sind die Schreibtische leer.“
Max hastet durch die Menge. Orientieren kann er sich leicht. Von weitem sieht er die beiden Türme des Trade Centers, in deren Glasfassaden sich die Mittagssonne spiegelt. Wenn er das Gewühl auf den Bürgersteigen meidet und sich auf der Fahrbahn vorarbeitet, kommt er recht zügig voran – gegen den Strom der Lastwagen, Ochsenkarren und Mopeds, die sich im Schritttempo auf ihn zu bewegen. Kein Taxi am Bahnhof. Zum Glück ist die Telefonzelle frei. Erstaunt vermerkt Max, dass die Verbindung auf Anhieb gelingt. Eine knorrige Stimme meldet sich am anderen Ende.
„Perera?“, sagt die Stimme, „nein, Herr Perera ist nicht hier. Rufen Sie morgen wieder an.“
„Wir sind verabredet,“ beharrt Max.
„Herr Perera ist nicht da! Rufen Sie morgen wieder an,“ sagt der Mann nur und legt auf.
‚Ganz ruhig bleiben,’ sagt sich Max und wählt noch einmal dieselbe Nummer. Es dauert lange, bis sich dieselbe Stimme wieder meldet.
„Ich hab Ihnen doch gesagt, Herr Perera ist nicht da.“
Entschlossen, sich nicht wieder abweisen zu lassen, sagt Max nun: „Dann verbinden sie mich bitte mit Ihrem Vorgesetzten.“
„Herr Perera ist mein Vorgesetzter,“ hört Max durch den Straßenlärm.
„Dann machen Sie bitte eine Verbindung mit dem Chef vom Vorgesetzten“, sagt Max.
„Welchen meinen Sie? Projekt-Prüfung, Projekt-Überwachung, Finanzierung?"
„Projekt-Prüfung“, antwortet Max so ruhig er kann. Dann hört er Musik. „When the Saints go marching in“ – eine Minute lang. Und dann noch eine. Dann wechselt die Musik aus dem Telefonhörer. Als Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ übergeht in „As Time goes by“ ist endlich die Verbindung zu einer Sekretärin – irgendwo hoch oben im Bürogebäude – hergestellt.
„Der Boss ist zum Lunch,“ sagt die Frau. „Worum geht es denn?“
Max schildert sein Anliegen und besteht darauf, dass er den Chef unbedingt noch heute sprechen muss. Schließlich ist er extra aus Kandy angereist. Als die Sekretärin verspricht, Max im Terminkalender „irgendwo“ dazwischenzuschieben, sagt er schnell: „Ich bin jetzt auf dem Weg zu Ihnen. Bin in einer Viertelstunde da,“ und unterbricht die Verbindung.
Max ist nicht der einzige, der nach einem Taxi sucht. Reisende, die mit dem Zug gekommen sind, haben eine Reihe gebildet. Zwischen den Männern und Frauen, die am Rinnstein stehen, ist auch Karunarathne. Beide begrüßen sich wie alte Bekannte.
„Wo sind bloß die ganzen Tuk-Tuks geblieben?“ fragt Max.
„Sie haben doch die Kontrollen an der Kelani-Brücke gesehen. Die Posten sind verstärkt worden. Die Taxis hängen vielleicht in den Verkehrkontrollen,“ entgegnet Karunarathne.
„Ist denn wieder was passiert, Anschläge, Überfälle?“
„Keine Ahnung. Aber man weiß ja nie!“
Aus dem Gewühl auf der Fahrbahn löst sich ein Militärfahrzeug und hält ein paar Schritte entfernt. Von der Ladefläche des LKWs springen bewaffnete Soldaten in verdreckten Uniformen. Max beobachtet einen Offizier, der - auffallend gepflegt wie aus dem Ei gepellt - die Bordsteinkante entlang stolziert und jedes einzelne Gesicht in der nun seltsam eingefrorenen Menschenmenge kritisch mustert. Vor einem dunkelhäutigen jungen Mann im bunten Sarong bleibt der Offizier stehen. Der Uniformierte herrscht den Zivilisten an. Dann sieht Max, dass der junge Tamile umständlich seine Taschen durchsucht. Seine Papier werden eingezogen. Zwei Soldaten nehmen den jungen Mann in die Mitte und zerren ihn zu ihrem LKW.
„Nur eine Formalität,“ sagt Karunarathne beschwichtigend, als er sieht, wie missbilligend Max reagiert.
„Und wofür soll das gut sein?“ murmelt Max zwischen den Zähnen.
„Sicherheitsmassnahmen. Natürlich im Interesse der Tamilen. 1983 haben wild gewordene Singhalesen Hunderte von Tamilen abgeschlachtet. Seitdem hat die Regierung eine Ausrede für alles,“ sagt Karunarathne leise und rollt mit den Augen. Dabei schiebt er Max ein wenig beiseite.
In der Nähe der Soldaten fühlt sich Max gar nicht so wohl. Weil es mit dem Taxi sowieso nichts wird, beschließt er, trotz der großen Hitze zu Fuß zum Trade Center zu gehen. Als er sich zum zweiten Mal von Karunarathne verabschiedet, hat er fast freundschaftliche Gefühle für den kleinen, runden Mann.
Da sind Sie ja in besten Händen
Um Zeit zu sparen, nimmt Max eine Abkürzung. Wie viele andere Fußgänger klettert er über ein hüfthohes Eisengeländer auf den Mittelstreifen der Allee. Am Kontrollpunkt vor dem Wolkenkratzer mit den vielen Büros halten Soldaten große Spiegel an langen Stangen unter Autos. Nur wenige Wagen stehen am Schlagbaum. In der Mittagshitze wirken die Kontrolleure, die nach verborgenem Sprengstoff suchen, eher gelangweilt als wachsam.
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