Am Straßenrand, in sicherer Entfernung zu dem Intercity-Raser, der ganz unvorschriftsmäßig schief – halb im Graben und halb auf der Fahrbahn – abgestellt wurde, stehen, sitzen, liegen nun die Fahrgäste herum, noch immer erregt diskutierend. Denn alle wollen die Riesen-Schlangen gesehen haben – vor allem die „acht - nein - zehn Meter langen, die sich einer Frau ganz hinten im Bus um den Hals schlingen wollten.“ Viele Passagiere halten die ineinander gepressten Hände vor ihre geneigten Köpfe, andere zupfen an ihren Amuletten. Ein Mann mit schwarzem Bart und weißer Kappe kniet mit Blickrichtung Nord-West - nach Mekka. Der Fahrer stellt fest, dass niemand verletzt wurde. Dann sagt er allen, die es hören wollen, es ginge gleich weiter. Denn drinnen im Bus würden die Giftschlangen jetzt eingefangen.
Um das abgestellte Vehikel, die Fahrgäste und einen Haufen Neugieriger hat sich im Nu ein neues Verkehrsgewühl gebildet. Überladene Lastwagen, Busse, Ochsenkarren und Tuk-Tuks zwängen sich laut hupend durch den Engpass. Der Schaffner spielt Hilfspolizist, erteilt Vorfahrt, stoppt zeitweilig den Gegenverkehr. Der Busfahrer und Karunarathne stehen ein wenig abseits. Gestenreich beratschlagen sie, was zu tun sei. Maximilian lehnt blass – aber tapfer – am Bus gleich neben der Fahrertür, die ein noch Tapferer zuvor geschlossen hat. Als die Beratergruppe zu einem Ergebnis gekommen ist, geht die Bus-Tür auf. Im Rahmen erscheint der Weißbart mit einem entschuldigenden Lächeln und dem blau-weiß-karierten Bündel. Beinahe würdevoll steigt er aus dem Wagen, den Schlangenkorb in der einen Hand, den Krückstock in der anderen. Er hält das Bündel in die Höhe, sodass es jeder sehen kann.
„Alles in Ordnung,“ ruft er.
Wie beim Start in Kandy geht es jetzt ganz schnell. Kaum ist der Schlangenbeschwörer mit seinem Bündel in sicherer Entfernung, kommt Bewegung in die Menge am Straßenrand. Keine drei Minuten später startet der Bus wieder – mit Vollgas. In der Staubwolke bleibt der alte Mann zurück – mit seinem Bündel im blau-weißen Tuch.
In ihren Kreisen gehört sich das so.
Im Halbschlaf hört Dharmasari Wickremasinghe beharrliches Telefonklingeln. ‚Warum lässt man mich nicht in Ruhe?’, denkt er. Er reckt sich, reibt sich das linke Auge und sucht im Dunkel nach Orientierung. Die schweren, roten Damast-Gardinen hatte er geschlossen, als er bei Tagesanbruch nach Hause gekommen war und sein Lager auf dem Sofa in der Bibliothek aufgeschlagen hatte. Dort schläft er oft – wenn er bis spät in die Nacht hinein an Akten arbeitet - und weil er oben im großen Doppelbett neben seiner Frau nicht willkommen ist.
„Ja, was ist denn?“, ruft er ungehalten in den Apparat.
„Ich bin’s...“
„Haben Sie das Geld an Ibrahim überwiesen?“, unterbricht er seinen Juniorpartner in Colombo - ohne abzuwarten, was der von ihm will.
„Waas, Konto nicht gedeckt? Die dritte Rate der Japaner war doch heute fällig!“
Während er nun doch den Mann am anderen Ende ausreden lässt, trommelt der Anwalt unruhig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Wickremasinghe kriecht fast in den Hörer hinein.
„Ist doch nicht wahr! Die Japaner waren doch bisher immer so...“ wirft er ein. „Also, nicht liquide?“
Sein Entschluss ist schnell gefasst. „Ich werde alles regeln. Ich komme sofort nach Colombo. Wir sehen uns im Büro. So gegen Drei.“ Er legt auf, immer noch wie benommen.
Wickremasinghe rasiert sich hastig. 'Du hast schon besser ausgesehen, alter Junge', sagt ihm das Gesicht im Spiegel. Seine rechte Augenhöhle tut weh. Den Schmerz empfindet er besonders, wenn er zu wenig geschlafen hat. ‚Das verdammte Glasauge muss raus!’, denkt er. ‚Sobald ich kann, geh ich nach Amerika und lass' es operieren.’ Er rückt die Sonnenbrille zurecht. Sie ist zu einer Art Markenzeichen geworden. Er trägt sie wie andere ihre Haftschalen, tagein, tagaus, in greller Sonne und in finsteren Nächten. Wickremasinghe bestellt den Wagen und geht hinauf ins Obergeschoss. Wie erwartet, trifft er seine Frau in ihrem Studio. Sie ordnet Bilderrahmen, offenbar für eine neue Ausstellung. Die gepflegte Mittvierzigerin hat ihm den Rücken zugewandt. Ihr seidenes, pechschwarzes Haar trägt sie offen.
Als der Anwalt ‚Guten Morgen’ wünscht, dreht sich Padma Wickremasinghe um und sagt kühl lächelnd: „Guten Nachmittag!“ Mit einer Handbewegung lädt sie ihn ein, auf dem kleinen Sofa am Fenster Platz zu nehmen.
„Hab’ leider keine Zeit. Muss sofort zurück nach Colombo. Geschäfte. Du weißt schon.“
„Seit wann bist du hier?“
Padma lächelt noch immer. An der Ehe halten sie fest. Denn in ihren Kreisen gehört sich das so. Scheidungen bringen sozialen Abstieg. Darin waren sich beide einig gewesen – nach dem großen Krach. Im Supermarkt hatte man ihr zugetragen, dass ihr Mann sie mit der netten Kassiererin betrügt. Seitdem ist ihr Lächeln zur Maske erstarrt.
„Bitte denk an den Scheck für Thilan! Er hat hier angerufen, weil er dich nicht erreicht hat. Dein Boy in Colombo sagte ihm, du seiest in Kandy,“ berichtet Padma ausdruckslos.
„Ja, mach ich,“ sagt er und denkt dabei: ‚Immer nur zahlen! Dieses teure Studium in Oxford! Konnte es denn nicht Colombo sein? Aber nein, das war der Mutter ja nicht gut genug für unseren Sohn! Wann hört das mal auf mit den Rechnungen?!’
„Und Najana möchte wissen, ob es bei der Reise bleibt. Sie muss sich beurlauben lassen.“
Der Anwalt nimmt sich vor, die Tochter anzurufen. Was er ihr sagen soll, weiß er nicht. ‚Najana ist immer so ungeduldig. Ich hab' doch nur beiläufig erwähnt, dass ich bald nach Amerika will – wegen der Operation. Hab gefragt, ob sie mich begleiten würde. Und schon will sie mich nageln, wann wir fliegen,’ denkt er. Und er sagt: „Jetzt muss ich aber los!“
As time goes by
Im ‚Intercity’ nach Colombo ist die Stimmung gelöst. Schrecken und Ängste sind verflogen. Man erzählt sich von der außergewöhnlichen Reise als läge sie in ferner Vergangenheit. Und weil ein jeder – je nach Temperament – seine Tapferkeit herauskehrt, hört sich dieselbe Geschichte immer wieder ein bisschen anders an.
Der Bus schaukelt wie zu Beginn der Reise. Die Lautsprecher werden weiter gefüttert mit Rockmusik aus der Kassette. Aber jemand hat die Phonstärke gedrosselt. Maximilian sitzt nun neben Karunarathne und mustert ihn anerkennend von der Seite. Max hat mitbekommen, dass Karunarathne als letzter aus dem Bus gekommen war, und dass er beschwichtigend auf den Fahrer eingeredet hat. Ihm hat Karunarathnes ruhig-bestimmte Art gefallen.
Die liebliche Landschaft hat sich gewandelt. Am Straßenrand reiht sich nun Hütte an Hütte: Krämerläden, Obst- und Gemüsestände, Kioske, vor denen Händler und ihre Kinder bunte Kleider, Hemden, Socken, Hosen oder Sarongs anbieten. Dann und wann ragt ein modernes, spiegel-verglastes Bürohochhaus aus den Flachbauten.
Grelle Reklameschilder und Plakate zeigen dramatische Szenen aus dem neuersten Kino-Hit. Die runden singhalesischen, brezelartigen Schriftzeichen überwiegen. Viele Schilder tragen Schriften in zwei Sprachen. Singhalesisch und englisch. Auf den Dächern von Garagen,die sie Supermärkte nennen, werben die Besitzer nicht nur für ihre Waren. Die Plakate enthalten auch Postadressen.
‚Sehr praktisch,’ findet Max, ‚denn Ortsschilder gibt es nicht.’„Gampaha“, „Miriswatta“, „Weliweriya“ und „Kadawatta“ kann er nach und nach den Anschriften entnehmen. Es sind Orte an der Peripherie von Colombo. Die Millionenstadt breitet sich aus wie ein Krake seine Arme.
Max hat schnell herausgefunden, dass sein Nachbar recht gut englisch spricht.
„Noch eine knappe Stunde,“ erfährt er, „dann sind wir am Hauptbahnhof. Wenn nichts dazwischen kommt – Schlangen, Krokodile oder Elefanten.“
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