Titel Rationalität und Lebenswelt . Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas Philosophische Studien
Impressum Klaus Peter Müller Rationalität und Lebenswelt. Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas. Philosophische Studien © Klaus Peter Müller Coverbild: © Klaus Peter Müller epubli Verlag, Berlin 2016
Descartes provisorische Moral
Romantische Phantasie
Langeweile
Valerys Faust Fragment
Habermas Lebenswelt
Jaspers Existentielle Freiheit
Vertrauen
Zum Autor
Nachweise
Fussnoten
Rationalität und Lebenswelt.
Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas
Philosophische Studien
Klaus Peter Müller
Rationalität und Lebenswelt.
Zur Idee einer kommunikativen Vernunft bei Habermas.
Philosophische Studien
© Klaus Peter Müller
Coverbild: © Klaus Peter Müller
epubli Verlag, Berlin 2016
Reflexion und Entschlossenheit. Descartes provisorische Moral
Ein Gleichnis der Moderne
Wer den Weg auf einer Wanderung verloren hat, ist froh einen Steinmann zu sehen. Ein solcher Steinhaufen, häufig hat er die Form einer Pyramide, setzt dem Verirren ein Ende. Die Unruhe legt sich. Andere Wegweiser sind: ein Schild, in Norwegen ein rotes T, ein weißer Balken an einem Baum, ein Leuchtturm usw..
Was jedoch ist, wenn es keinerlei Anhaltspunkte für eine Orientierung gibt?
Es ist Descartes, der in seinem Buch „Von der Methode“ eine solche ungewisse Situation beschreibt und zugleich einen Ausweg anbietet. Seine Geschichte von Reisenden, die auf ihrem Weg die Orientierung verloren haben, wird in philosophischer Hinsicht zum Bild einer vorläufigen Moral, das Blumenberg später ein Urgleichnis der Neuzeit nennen wird. 1
Nach Descartes soll man in einer solchen Situation in seinen Handlungen fest und so entschlossen wie möglich sein und auch den zweifelhaftesten Ansichten beharrlich folgen und so tun als ob sie ganz gewiss wären. Man soll es wie jemand machen, der sich im Wald verirrt hat und nicht ziellos herum läuft oder an einer Stelle bleibt, sondern so geradewegs wie möglich in eine Richtung geht. Von dieser Richtung soll nicht aus unbedeutenden Gründen abgewichen werden. Am Ende wird man so vermutlich irgendeine Gegend erreichen. Mit einem Wort: wer nicht in der Lage ist, die wahrsten Ansichten zu erkennen, soll nach Descartes den wahrscheinlichsten folgen. 2
Was Descartes beschreibt, ist die Situation einer ungewissen Orientierung, in der die Reflexion nicht weiter hilft, weil die Gründe fehlen. Die Folge ist, formale Entschlossenheit wird für das Handeln zum Wert.
Was nicht ausschließt, das aus der Entschlossenheit auch eine blinde Entschlossenheit werden kann. Beschrieben wird eine Situation in der die Reflexion ihre Bedeutung verliert und von der Idee eines formalen Könnens, einer technischen Idee, einer Art Mechanismus abgelöst wird. Nicht mehr selbstverständlich gilt in diesem Gleichnis die platonische Vorstellung, wonach alles Können im Horizont des Erkennens zu belassen sei. Alle Geschicklichkeit sollte sich bei Sokrates noch auf eine begründete Einsicht zurückführen lassen. 3
Aber der Entwurf einer provisorischen Moral geht von einer Situation aus, in der eine wahre Erkenntnis für den Moment nicht möglich ist, wobei allerdings bei Descartes offen bleibt, wie das Ziel einer endgültigen Moral überhaupt zu verwirklichen sei.
Descartes Verirrte haben sich durch ihr Handeln, durch eine Bewegung in ihre Situation gebracht und nur durch Handeln können sie auch einen Ausweg finden.
Erscheint diese Situation, sich durch Handeln, durch eine Bewegung in einer ungewissen Situation zu befinden wie bei Descartes, nicht auch wie ein Vorgriff für das Problem der Orientierung, für die Suche nach dem richtigen Maßstab der Orientierung in der modernen Gesellschaft, wobei sich das ungelöste Spannungsfeld von Reflexion und Entschlossenheit zunehmend aufdrängt?
Das Problem gilt wohl ebenso für die Entwicklung der modernen Wissenschaft, die das, was schon Descartes im Ansatz zum Programm erhoben hat, nämlich, dass es darauf ankommt mit Hilfe des Wissens sich in der Welt mit Sicherheit zu bewegen, als Aufgabe weiterführt. Wobei Descartes mit seinem Methodenbegriff entscheidend die Anfänge der Moderne mit bestimmt hat, durch das, was man nach Valéry die „Quantifizierung des Lebens“ nennen könnte. 4
Die Aufgabe, sich in dieser Welt mit Sicherheit zu bewegen, ist jedoch in der Moderne alles andere als gelöst anzusehen. So weist z.B. Habermas darauf hin, dass sich in der Gegenwart zunehmend nicht nur in der Politik eine besondere Form der Ratlosigkeit entwickelt, die er kurz die „neue Unübersichtlichkeit“ nennt. 5
Die moderne Gesellschaft wird nämlich durch stetigen Wandel, d.h. durch Bewegung bestimmt, nicht zuletzt dominiert durch den technischen Fortschritt, aber auch durch eine Umwertung der Werte. Jedoch, diese Veränderungen in der Gesellschaft sind nicht nur stetig, sondern sie beschleunigen sich auch exponentiell. Die Bedingungen knapper Zeit und begrenzter Informationen werden zu ständigen Begleitern in diesem Prozess. In einer solchen Situation wird man den Weltgeist von Hegel nicht entdecken, wohl aber einen Geist mit Flügel aber ohne Kopf oder einen seiner Verwandten, den Hans Dampf ohne Ideen. 6
Man kann sich also nicht nur in einem Wald wie bei Descartes verirren, sondern in der Moderne auch in einer Welt des ständigen Übergangs, in der man befürchten muss, ständig den Boden unter den Füssen zu verlieren.
Im Zeitalter der Beschleunigung, d.h. in einem Zeitalter vor allem des technischen Fortschritts wird daher Entschlossenheit leicht zu einem Wert an sich , zu einer Einstellung, die u.U. sogar nicht nur in der Praxis zu einem eigenständigen Merkmal von Autorität wird.
Es ist Marquard, der in kritischer Intention darauf hinweist, dass unter den Beschleunigungsbedingungen der modernen Gesellschaft z.B. die Änderung der Daten häufig ignoriert werden muss, da man sonst nicht handeln kann. Man braucht daher nach Marquard Konstanzfiktionen, d.h. wenn alles fließt wie in der modernen Gesellschaft, braucht das Durchhalten einer Handlungslinie eine Fiktion. 7Von einer solchen Konstanzfiktion mit der möglichen Folge einer sträflichen Vernachlässigung der Reflexion wird im Ansatz schon in der Geschichte des Descartes erzählt, auch wenn diese wohl noch nicht auf dem Hintergrund des Problems eines beschleunigten Wandels in der Gesellschaft erzählt wird.
Zögern und Zaudern
Die Verirrten von Descartes sollen nicht zögern oder zaudern, sondern sie sollen entschlossen handeln. Es geht darum, geradeaus in eine Richtung zu gehen, auch wenn die Wahl der Richtung am Anfang durch den Zufall bestimmt sein sollte. 8Für denjenigen, der sich verirrt hat, ist es besser irgend etwas zu tun, als in der Ratlosigkeit zu verharren.
Die Gerade ist die kürzeste Verbindung von Punkt zu Punkt. So scheint sie das geeignete abstrakte Mittel für ein konkretes Problem, denn die Verirrten haben es eilig den Ausweg aus dem Wald zu finden. Wer auf diese Art, d.h. unter Zeitnot dem Schein der Wahrheit folgt, kann dem Zweifel und dem Denken nur wenig Raum schenken. In der Situation, die Descartes anführt, muss unter der Bedingung knapper Zeit gehandelt werden. Blinde Entschlossenheit wird daher leicht unter solchen Umständen zu einem Merkmal der reinen Selbsterhaltung.
Es ist eine bedenkliche Situation, die Descartes an den Anfang seines Gleichnisses stellt, ist doch gerade das, was das Menschliche ausmacht, eine Kultur des Zögerns, eine Kultur der Umwege. Es ist ein Unterschied, ob man auf eine Situation nur reagieren oder die Reaktion verzögern kann, um Zeit für eine Reflexion zu gewinnen. Überträgt man einmal das Gleichnis von Descartes auf ungewisse Situationen in der Gesellschaft, so ist durchaus fraglich, ob die Idee einer Abkürzung das geeignete Mittel ist und vor allem das ist, was man als einen humanen Weg bezeichnen kann. Blumenberg hat nicht von ungefähr auf die Bedeutung von kulturellen Anstrengungen des Menschen hingewiesen, die gerade Momente der Verzögerung sind. 9
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