In einer solchen Welt erwacht mit einem Mal nach Kierkegaard wieder das verzauberte Schloss, erwacht die romantische Phantasie: die Bewohner dieser Erde werden wieder wach, „vom Walde kommt ein leichter Hauch, die Vögel singen, die schöne Prinzess lockt wiederum den Freier an () es duften die Auen, Lieder und Gesänge reißen sich los aus dem Schoße der Natur und flattern ringsum“. 59
Eine ähnliche Atmosphäre wie in der Beschreibung von Kierkegaard findet sich auch in der romantischen Literatur wieder. Der Romantiker fühlt sich „selig, wenn er sein Auge wieder an der Schönheit der Landschaft weidet“, wie es in „William Lovell“ heißt. 60
Die schöne Natur wird zum Idealbild des Lebens in Opposition zur Erfahrung eines beschädigten, unwirklichen Lebens, in dem sich die Menschen wie klappernde Marionetten bewegen, die an Drähten hängen. 61
Das romantische Denken sucht die Heilkraft gegen das beschädigte Leben in der unberührten Natur. Man geht von der Voraussetzung aus, dass die Anschauung der schönen Natur das Heilmittel gegen das abstrakte Leben ist. Wie zum Selbstverständnis der Lebensphilosophie wird auch zur Romantik die These gehören, das zum Umgang mit, d.h. der Beherrschung der Natur auch ihre Abtötung gehört. Eine Natur, die rein menschlichen Zwecken unterworfen wird, lebt in diesem Sinne nicht mehr. 62
In der Tat gehört zur modernen Naturbeherrschung durch die Naturwissenschaft die Einsicht, dass die Erkenntnis mittels einer reinen Anschauung der Natur ihre Bedeutung verloren hat. Die Naturwissenschaft berechnet die Natur, macht sie verfügbar; für sie ist die Anschauung keine höhere Form der Erkenntnis mehr, wie das noch in der platonischen Tradition des Denkens möglich war.
Im Gegensatz dazu steht das romantische Denken, dass die Form der Anschauung wieder hervorheben möchte. Wenn es darum geht, wie es in einem Text heißt, „die heilige Schrift der schönen Natur“ zu verstehen, so kann dieses Streben für die Romantik nur eine Sache der Anschauung sein und nicht der Berechnung, d.h. die Natur wird ästhetisiert. 63
Was als wirkliche Natur in Betracht kommt
Was gilt in der Naturwissenschaft als Wirklichkeit? Anders gefragt, was gilt in ihr als Natur? Steht daneben nicht eine Erfahrung der Natur in der Lebenswelt, die davon zu unterscheiden ist? Husserl hat das behauptet und auf die Unterschiede der Erfahrung der Natur, auf das Spannungsfeld von Lebenswelt und Naturwissenschaft explizit aufmerksam gemacht. Nach Husserl stülpt die Naturwissenschaft der Natur ein passendes Ideenkleid über und erhebt dabei den Anspruch, zu wissen was Natur ist, besser, was als Natur in Betracht kommt. 64
Nun ist dieses Spannungsfeld von Wissenschaftswelt und Lebenswelt schon ein Gegenstand des romantischen Denkens. Schon in der Romantik wird das, was Marquard den Abstraktheitsschaden der Naturwissenschaft in Bezug auf die Lebenswelt des Menschen nennt, erfahrbar bzw. so empfunden. 65
Das liegt daran, dass die Naturwissenschaft eingrenzt, was als Wirklichkeit, d.h. Natur in Frage kommt. Wirklich ist in diesem Sinne für die Naturwissenschaft nur das, was sich auch kontrollieren lässt, was messbar und z.B. in einem Experiment bestätigt werden kann. Die Natur wird mit den Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften gleichgesetzt, was allerdings so nicht richtig ist, denn auch mein Körper gehört zur Natur, indem ich lebe und der daher nicht lediglich ein Messobjekt ist. 66
Schon Kant hat den Bereich der Wirklichkeit für die Wissenschaft bestimmt, indem er behauptete, dass die Natur in den Naturwissenschaften nur als Erscheinung gilt. Allerdings kannte er daneben noch das Ding „an sich“, das sich der positiven Bestimmung durch die Erkenntnis entzog. Für Kant gab es noch etwas, das sich der positiven Bestimmung entzog und dennoch von Bedeutung war. Nicht so ist es allerdings später in einer Philosophie, die die exakte Wissenschaft der Natur sich zum Vorbild nimmt, wie z.B. dem Pragmatismus. Sätze der Metaphysik haben für den Pragmatismus keine Bedeutung mehr, sie sind auszuschließen. 67
Aber was im Pragmatismus schon zum Programm gehört, dass es selbstverständlich in einer modernen Wissenschaft ist, z.B. von einem „Wesen“ der Natur nichts zu wissen, wurde schon zu Beginn ihrer Entwicklung z.B. durch das romantische Denken widersprochen. Die Verfahren der modernen Wissenschaft sind aus dieser Perspektive nicht nur der Grund für den technischen Fortschritt, sondern das naturwissenschaftliche Verfahren, setzt auch voraus, dass die Natur in Hinsicht auf ihren Wert „neutralisiert“ wird. 68
Man kann die Romantik geschichtlich in der Nachfolge der Aufklärung als eine Art Widerstand gegen diese „Neutralisierung’“des Wertes der Natur verstehen; gegen eine Intention des Denkens, nach der das Wesen der Dinge in der Natur generell keine Bedeutung mehr haben, keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen soll, so wie das tatsächlich in einer Wirklichkeit geschieht, die potentiell vom naturwissenschaftlichen Denken bestimmt wird.
Die Philosophie der Romantik ist in diesem Sinne der Ausdruck für ein Zeitalter des Übergangs, in dem die ehemals vorherrschende Orientierung des Denkens an der Natur der Dinge, an ihre „Essenz“, ihre Bedeutung zu verlieren beginnt.
Das romantische Denken kann daher als eine Opposition gegen diese Entwicklung des Denkens, als der Versuch einer „Reessentialisierung“ interpretiert werden. Wobei es bei der romantischen Rekonstruktion des Platonismus nicht lediglich um eine reine Übernahme geht, sondern um einen Umbau des platonischen Modells unter Einbeziehung der christlichen Religion.
Das Höhlengleichnis
In Frage steht zur Zeit der Romantik, was die Orientierung des philosophischen Denkens betrifft, vor allem das platonische Modell der Philosophie, dass bis in die Moderne hinein in allen möglichen Formen seine Anziehung behalten sollte. Man denke z.B. an die Phänomenologie von Husserl.
Dieses Modell hat Plato in unvergleichlicher Art und Kürze in einem Gleichnis dargestellt, dass zugleich die theoretische Struktur und die wesentlichen Spannungen seines Denkens ausdrückt. Die Welt wird bei Plato zu einer dualen Konstruktion, Wesen und Erscheinungen sind getrennt. Es gibt nach diesem Modell eine Welt des Unveränderlichen und eine Welt des Veränderlichen.
In dem Höhlengleichnis des Plato sind die Menschen Gefangene, Gefangene der Sinne. Sie leben in einer Welt der Erscheinungen, die sie für ihre Wirklichkeit halten. Von einer anderen höheren Welt wissen sie nichts, bis zu dem Moment, wo ein Philosoph ihnen von dieser anderen Welt erzählt und den Ausweg ins Licht weist, d.h. in die Welt der Ideen.
Welcher Weg führt daher aus der Höhle hinaus? Die Negation der sinnlichen Neigungen. Vorausgesetzt wird, die Dinge, die gesehen werden, sind Repräsentanten eines sinnlich nicht wahrnehmbaren Eidos. Neben dem Sinnlichen und Veränderlichen, d.h. Zeitlichen gibt es daher in der platonischen Philosophie ein Unveränderliches, eine letzte Realität. In diesem Sinne bedeutet die Suche nach Wahrheit, die Suche nach einer Übereinstimmung mit dieser letzten Realität.
Was Plato voraussetzt, ist, dass das Verlassen der Höhle, das Verlassen der Welt der Erscheinungen auch gewünscht wird. Was aber ist, wenn die Gefangenen durchaus zufrieden sind mit ihrer Welt der Erscheinungen und diese nicht verlassen wollen? Die Erscheinungen mögen nur Schattennahrung sein, aber doch nur für denjenigen, der beansprucht, mehr als sie zu besitzen und dieses mehr doch nur in Aussicht zu stellen vermag. Wohlgemerkt, es ist nur ein Versprechen.
Dass es neben einer Wirklichkeit des Scheins, die von diesem Denken als eine Gefangenschaft interpretiert wird, noch eine höhere Wirklichkeit gibt, ist eine Voraussetzung des platonischen Denkens. Eine Voraussetzung allerdings mit Folgen für die Geschichte der abendländischen Kultur, impliziert sie doch auch eine Abwertung des Sinnlichen durch das Denken. Die Konstruktion der platonischen dualen Transzendenz setzt die Vorstellung eines Unvergänglichen über das Vergängliche.
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