Das Instrumentelle Denken versteht sich selbst vorzugsweise als permanentes Arbeiten an einer Baustelle. Wenn Dewey daher von einzigartigen Zielen spricht, so sind damit natürlich keine letzten Ziele gemeint. Ein Ausdruck dieser Verzeitlichung der Moral ist, dass die Ziele durch die einzelnen Situationen bestimmt werden. In diesem Sinne ist das „möglich Bessere“ das einzig Gute jeder Situation.
Der Bezug auf den Begriff der Situation, als Ausdruck einer Verzeitlichung der Moral, verwandelt dabei den traditionellen metaphysischen Gegensatz Zeit und Ewigkeit in den Gegensatz Zukunft und Vergangenheit. Aus der Moral wird ein Bewegungsbegriff, die der stetigen Lebensform des Übergangs im beschleunigten gesellschaftlichen Wandel angepasst ist. Anschaulich lässt sich die damit verbundene weltimmanente Zeit als ein Weg in eine offene Zukunft darstellen. Zur Vorstellung der idealen Bewegung in der Moderne gehört kein konkretes Ziel, das erkennbar wäre oder anders ausgedrückt, die Bewegung erscheint selbst als einziges Ziel.
Eine solche Veränderung des Moralbegriffs findet man auch im pragmatischen Denken. So gilt das pragmatische Interesse vorrangig der Frage, welche Mittel und Zwecke dem vorgegebenen Ziel angemessen sind, weniger geht es darum, auch das Ziel zu hinterfragen.
Horkheimer hat kritisch darauf hingewiesen, dass dem instrumentellen Denken der Gedanke, dass ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann, im Grunde fremd ist. 36Für das pragmatische Denken gibt es keine Klasse selbstlosen Verhaltens mehr, die z.B. nach Jonas noch für die Ethik entscheidend ist. Das Gute der Ethik ist aus der Sicht des Pragmatismus mit dem Begriff des Wertes identisch, allerdings als ein Wert für jemanden oder etwas und kein Wert „an sich“. 37
Das Problem ist, dass in einer solchen Perspektive allerdings auch die Frage nach einer Natur „an sich“ entfällt, die Frage nach einem eigenständigen Wert der Natur, die sich vor allem aufgrund der ökologischen Probleme in der modernen Welt zunehmend aufdrängt. Es sind zwei verschiedene Dinge, die objektivierte Natur und die Natur „an sich“. 38Ohne diese Trennung kann allerdings wohl kaum eine Moral gedacht werden, die auch die Natur als solche in den Kontext der menschlichen Verantwortung einbezieht. Auch wenn dieses „an-sich“ der Natur sich positiv nicht bestimmen lässt, so heißt das nicht selbstverständlich, dass es auch ohne Bedeutung ist.
Eine solche Trennung ist allerdings dem pragmatischen Denken fremd. Im Anschluss an Bacon, für den Wissen die Macht ist, die Welt zu verändern, ist für Dewey klar, dass die Welt nur als Material für Veränderungen akzeptiert oder hingenommen wird. Das bedeutet nach Dewey, das die Dinge nur insoweit für das pragmatische Denken akzeptiert werden, wie sie dem instrumentellen Interesse dienen. So wird nach Dewey ein Zimmermann erst dann zum Handwerker, wenn er die Dinge nicht als Objekte an sich wahrnimmt, sondern unter dem Gesichtspunkt, was er mit ihnen machen kann und tun will. 39
Rationalität durch Verfahren
Descartes hebt in seinem Gleichnis die Notwendigkeit einer Entscheidung hervor, auch wenn wir die wahrsten Ansichten nicht erkennen können, wie das nach seiner Meinung in der Situation der Verirrten im Wald gegeben ist. In diesem Fall sollen wir der „wahrscheinlichsten Ansicht“ folgen. Es ist eine Entscheidung, die nicht mehr in Frage gestellt werden soll, soweit sie - wie es heißt - für die Praxis Bedeutung hat, d.h. sie solle als nicht zweifelhaft und ganz sicher angesehen werden, vorausgesetzt der Grund für die Entscheidung trifft zu. 40
Wer aber trifft in dem Gleichnis des Descartes die Entscheidung über die Richtung, die eingeschlagen werden soll? Wer ist für die Rationalität dieser Entscheidung zuständig? Descartes spricht davon, dass er es den Reisenden nach macht; mit anderen Worten, er unterstellt den anderen, dass sie so wie er entscheiden würden. Der Standard für die Rationalität seiner Entscheidung steht für ihn fest, für sie spricht der gesunde Menschenverstand, aber auch die Logik und sie sei daher auch als allgemein verbindlich anzusehen.
Nun ist es allerdings alles andere als selbstverständlich, dass in einer Gruppe, die sich verirrt hat, sofort Einigkeit über eine solche Lösung herrscht. Die Entscheidung, d.h. ihre Geltung hängt auch von den anderen ab.
Es ist das Problem der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen, das in dem Gleichnis von Descartes noch kein Thema ist und sich später in der Moderne aufdrängen wird. 41Für Descartes Subjektphilosophie ist die sprachliche Verständigung noch kein Problem, d.h. auch nicht die gegenseitige Anerkennung in Bezug auf moralische Normen. Die Frage der Geltung von moralischen Ansprüchen ist noch eine reine Frage der Subjektivität selbst.
Anders etwa bei Habermas, der davon ausgeht, dass Verständnisleistungen eine rational motivierende Kraft haben, und der daher versucht, die Bedeutung der moralischen Dimension bei Verständnisprozessen hervor zu heben, d.h. durch kommunikatives Handeln. Um diesen Ansatz einer Kommunikationstheorie einmal mit dem Gleichnis von Descartes zu vergleichen, so könnte man sagen, das Habermas von der Annahme ausgeht, das es neben einer gemeinsamen Lösung für die Situation, die sich rein auf eine Rationalität des praktischen Zwecks zurückführen lässt - so wie bei Descartes -, es auch auf die Rationalität von Verständnisleistungen selbst ankommt. Wobei die Diskursethik voraussetzt, dass nur dann eine Norm Geltung beanspruchen kann, wenn alle Teilnehmer des Gesprächs sich darüber im Moment oder in Zukunft verständigen können, dass diese Norm gilt, wenn also ein Konsens erzielt werden kann. 42Setzt die Autorität einer moralischen Norm von sich aus den Anspruch einer allgemeinen Geltung voraus, so wird in der Diskursethik die Entstehung dieser Geltung als Prozess und als Aufgabe verstanden.
Endlicher Irrtum
Die Lösung, die Descartes für die Verirrten im Walde anbietet, ist allerdings von einer Voraussetzung abhängig: Irrtümer sind endlich. Die Ideallinie, die Gerade, die einen Ausweg verspricht, ist dabei jedoch nichts anderes als der Ausdruck für einen Erfüllungsanspruch, der dem Wunsch nach Sicherheit in dieser Situation zu genügen scheint. Die Gerade ist somit eine Fiktion, auch wenn sie zur Lösung des Problems als notwendig erscheint. Die Reisenden sollen nach Descartes so handeln „als ob“ sie mit dieser Ideallinie ihr Ziel, einen Ausweg erreichen.
Irrtümer sind endlich, das bedeutet in der Subjektphilosophie von Descartes auch, Irrtümer sind eine Frage des Endlichen, sie treten im Endlichen auf.
Setzt man einmal voraus, dass das Denken von Descartes von dem Anspruch geleitet wird, den Irrtum auszuschließen, Gewissheit und Sicherheit zu erreichen, so kann dieser Anspruch daher nach ihm nicht im Endlichen, im Praktischen verwirklicht werden. Die letzte Gewissheit wird zu einer Sache des reinen Selbstbewusstseins.
Der philosophische Anspruch, den Irrtum letztlich auszuschließen, entpuppt sich jedoch zunehmend in der Moderne nicht ohne Grund als Irrweg, zumindest in Philosophien, die die traditionelle platonische Metaphysik, diese Lehre von den Zwei-Welten radikal in Zweifel ziehen und die Bedeutung der Welt der Erscheinungen, die Welt der Erfahrung hervorheben möchten. Gab es ehemals in der platonischen Vorstellung Zwei-Welten, eine scheinbare und wahre Welt so gibt es nunmehr nur noch eine Welt und sonst nichts. Die „wirkliche“ und einzige Welt wird nunmehr eine Welt der Zukunft, eine Welt, verstanden als ein Horizont unendlicher Erfahrung.
Sie ist keine Welt im Sinne Platos mehr, für den die Welt ein vernunftbegabtes Lebewesen war, ein Abbild des Äon.
Es gibt in dieser modernen Welt keine „Heimat“ mehr, die man verloren hat und zu der man zurück möchte, eine Heimat jenseits der sinnlichen Erfahrung, wie sie sich noch in der Bedeutung der „Erinnerung“ in der griechischen Philosophie ausgedrückt hat. Nunmehr gibt es, wie in der Philosophie des Pragmatismus keine anderes Heim mehr als in der endlichen Erfahrung: „aber die endliche Erfahrung als solche, die hat kein Heim.“ 43
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