Klaus-Dieter Müller
Zukunft möglich machen
Klaus-Dieter Müller
Zukunft möglich machen
Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung
- Geschichte einer Hamburger Institution -
Impressum
Text und Umschlaggestaltung:
© Copyright by Klaus-Dieter Müller, Hamburg
Verlag:
Klaus-Dieter Müller
Glasbläserhöfe 8d
21035 Hamburg
klaus-dieter.mueller@hamburg.de
Druck und Vertrieb:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Hamburg, Februar 2022
Vorwort
Teil I: Wurzeln
Kinder der Armut
Der Staat greift ein
Eine neue Zeit
Talfahrt
Ausgestoßen, benutzt und vernichtet
Neuanfang? Zurück in die 1920er
„Etwas Geborgenheit fanden alle“
Bambule
„Wie ein Stück Dreck behandelt“
Teil II: Aufbruch
„Die Würde des Kindes ist unantastbar?“
Die Heimreform schreitet voran
„Menschen statt Mauern“
Die zweite Reform
Der Riese taumelt
Schmerzhafte Grenzen
Im Fokus der Politik
Teil III: Umbruch
Politikwechsel
Die schwarze Null
Mauern und Menschen
Die Politik sortiert sich neu
Teil IV: Backbone
Netz und Zuflucht
„Wir schaffen das“
Im Griff des Virus
Epilog
Danksagung
Der Autor
Quellen
Anmerkungen zur Auswahl und Verwendung der Quellen
Literaturverzeichnis
Aktenverzeichnis
Anmerkungen
„Landesbetrieb Erziehung und Beratung“ – das ist eine recht nüchterne Bezeichnung für eine Organisation, die in der Großstadt Hamburg an allen Tagen des Jahres rund um die Uhr für das Wohlergehen junger Menschen tätig ist. Sie schützt, versorgt und betreut Kinder und Jugendliche, wenn ihre Familien dies nicht mehr gewährleisten können, unterstützt junge Erwachsene auf ihrem Weg in ein selbstständiges Leben und berät Familien.
Kern dieser Aufgabe ist es, jungen Menschen Wege zu einem befriedigenden, selbstbestimmten Leben in der Gesellschaft zu ebnen. „Wir machen Zukunft möglich“ lautet daher auch der Titel des Leitbildes, das sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesbetriebes selbst gegeben haben.
Das ist zunächst nichts Besonderes. Der Leitsatz drückt den Geist aus, den letztlich alle im Sozialen tätigen Institutionen und Menschen teilen. Und der Blick in die Geschichte zeigt, dass auch die vorangegangenen Generationen diesem Leitsatz folgten, allerdings mit einem anderen Begriff von der Zukunft für junge Menschen und anderen Mitteln zu ihrer Verwirklichung.
Die Tätigkeit auf diesem Gebiet ist in Deutschland seit jeher eine Domäne Freier Träger der Wohlfahrtspflege. Das ist historisch bedingt, denn einer Fürsorge bedurfte es schon, bevor ein staatlich organisiertes Gemeinwesen sich seiner bedürftigen Mitglieder annehmen konnte und wollte. Dieser starken Stellung religiös und später auch weltlich orientierter Träger auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege wurde in der sozialstaatlichen Gesetzgebung Rechnung getragen. Das dort verankerte Subsidiaritätsprinzip verpflichtet den Staat, die sozialen Aufgaben zu planen, hoheitlich zu administrieren und zu finanzieren, aber nicht selbst helfend am Menschen tätig zu werden, wenn ein Freier Träger hierfür bereitsteht.
Der Landesbetrieb Erziehung und Beratung in Hamburg, seit Jahrzehnten als „LEB“ abgekürzt, ist insoweit eine Ausnahme. Er ist Teil einer Landesbehörde und somit in staatlicher Trägerschaft. Auch das ihm zugewiesene Aufgabenspektrum und der Umfang seiner Ressourcen sind außergewöhnlich. Im Jahr 2021 waren über 700 Beschäftigte an über 40 Standorten in der Stadt für ihn tätig. Sein Jahresumsatz hatte ein Volumen von rund 57 Millionen Euro. Seine heutige Stellung ist das Ergebnis einer langen Entwicklung und eines Sonderweges, den die Freie und Hansestadt Hamburg gegangen ist. Der Landesbetrieb ist damit in Deutschland einmalig.
Der LEB wurde 1985 aus den damaligen, staatlichen Erziehungsheimen gegründet. Seine Wurzeln liegen tiefer und gehen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als sich der Hamburger Senat noch eher halbherzig für die Jugend engagierte. Für den Landesbetrieb ist daher der Beginn der modernen, staatlichen Jugendfürsorge im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Deutschland und speziell in Hamburg der markante historische Bezugspunkt, der auch für den Teil I, „Wurzeln“, der Ausgangspunkt ist. Der Hamburger Sonderweg wurde in den 1920er Jahren aufgrund einer politischen Strategie beschritten. Der Senat entschied sich damals bewusst für staatlich betriebene Einrichtungen für junge Menschen, um „auf den Geist der Anstalt einen Einfluss zu besitzen“, wie das Landesjugendamt diese Politik 1925 begründete. Das nationalsozialistische Regime übernahm 1933 die politische Macht und nahm auf ihre, verbrecherische Weise Einfluss auf die staatliche Erziehung. In der Nachkriegszeit verfolgte der Senat die Politik der 1920er Jahre im Grundsatz weiter, so dass Hamburg Ende der 1970er Jahre über einen relativ großen Bestand an Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft verfügte.
Teil II befasst sich mit der Gründung und Etablierung des Landesbetriebes im Zuge der in Hamburg verspätet begonnenen Heimreform und der folgenden rechtlichen und institutionellen Modernisierung der Jugendhilfe, dem umfassenden „Aufbruch“ zwischen 1980 und der Jahrtausendwende. Der Teil III geht der rund 10-jährigen Phase eines „Umbruchs“ nach, die auf den Regierungswechsel nach der Bürgerschaftswahl im Jahr 2001 folgte. Die neue Politik verfolgte eine Fokussierung auf staatliche Kernaufgaben. Der Landesbetrieb wurde in dieser Phase erheblich verkleinert und inhaltlich neu ausgerichtet. Eine in diesem Zusammenhang wesentliche, politische Entscheidung war die Integration des Kinder- und Jugendnotdienstes in den Landesbetrieb im Jahr 2003.
Der Teil IV, „Backbone“, bewegt sich in der Zeit nach dem „Umbruch“, in der die Funktion des LEB als ein struktureller Kern in der Hamburger Jugendhilfe etabliert war und der Betrieb sich in dieser Rolle bewähren musste.
Die Geschichte des LEB ist eingebettet in gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse. Als staatlicher Träger wurden seine Aufgaben stets vom sozialpolitischen Programm und dem daraus folgenden Regierungshandeln des Senats und der jeweils für die Jugendhilfe zuständigen Behörde bestimmt. Er unterlag öffentlicher Kontrolle durch die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg und der Medien. Dieser Blickwinkel spielt daher in dieser Abhandlung eine bedeutende Rolle. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen haben in der langen Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt und werden insoweit aufgegriffen, stehen jedoch nicht im Vordergrund.
Ich war über 18 Jahre Geschäftsführer des Landesbetriebes und vorher in leitender Position in der Behörde, welche die Aufsicht über den Betrieb führte. Einen wesentlichen Teil meines Berufslebens habe ich mich mit dem Landesbetrieb befasst und seine Entwicklung mitgestaltet. Mit der vorliegenden Abhandlung möchte ich diese, mich beindruckende „Hamburger Institution“ und die sie tragenden Menschen würdigen.
In den nachfolgenden Kapiteln möchte ich die Geschichte erzählen und mit einem Rückgriff auf Alltagsepisoden und zeitgenössischen Äußerungen auch erzählen lassen. Das Buch soll vor allem für am Thema Interessierte zugänglich sein und dazu inspirieren, die Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu reflektieren und besser zu verstehen.
Klaus-Dieter Müller
Hamburg, im Februar 2022
Teil I: Wurzeln
Kinder der Armut
Der Hamburger Sommer 1892 war heiß und seine großen Gewässer Alster und Elbe erwärmten sich auf über 20 Grad. In den engen Gassen des Gängeviertels und anderer Arbeiterquartiere ertrugen die Menschen die Sommerhitze nur schwer. Auch stellten sich die im Sommer gehäuften Verdauungsprobleme ein. Die Abwässer landeten in den Fleeten und verbreiteten einen elenden Gestank. Und auch das Hamburger Trinkwasser, das der Elbe entnommen wurde, war durch mitgeführten Schmutz sowie tierische und pflanzliche Organismen trübe und unrein. Der Naturfreund Hartwig Petersen wies in den 1870er Jahren 18 Tierspezies von kleinen Schnecken bis hin zu Fischen und dem Aal im Trinkwasser nach. Es gab in der Stadt aber nichts anderes und so war selbst diese widerliche Brühe in der sommerlichen Hitze die einzige Quelle. {1}
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