Auf dem Hintergrund eines Umbruchs der kulturellen Werte, vor der Erfahrung einer Welt, die zunehmend als eine reine Welt des Scheins wahrgenommen wird, kann man das Gleichnis der „Verirrten im Wald“ als einen ersten Versuch verstehen, ein Modell der Rationalität für eine Welt des Scheins zu entwerfen. Auch in einer solchen Welt, die eine Welt des Übergangs ist, gilt es, einen Maßstab für die Orientierung des Handelns zu finden, eine Art Rationalität zu entwickeln, die sich auf die Situation bezieht. Wenn in dem Gleichnis des Descartes der Vorschlag ausgedrückt wird, in eine Richtung zu gehen und nicht aus unbedeutenden Gründen abzuweichen, so heißt das auch, dass die Entscheidung eine vorläufige ist. Die Entscheidung über die Richtung der Orientierung wird daher potentiell zu einem Prozess.
In Descartes Gleichnis drückt sich daher - wohlgemerkt im Ansatz - schon das Modell einer Rationalität aus, die später in der Moderne eine Rationalität durch Verfahren heißen wird, so etwa bei Habermas in seiner Kommunikationstheorie. 26Es kommt zur Vorherrschaft der Methodenidee in der Philosophie, wenn nicht gar zur Gleichsetzung von Philosophie und Methode wie im Pragmatismus.
War ehemals in der traditionellen Metaphysik nur ein Erkennen wirklich rational, das sich am Unveränderlichen orientierte, so soll sich nunmehr das Erkennen auf das Veränderliche, auf die Praxis beziehen, d.h. auf das Handeln. Mit anderen Worten, in der Moderne wird Rationalität zu einem Bewegungsbegriff, zu einer Rationalität in nachmetaphysischer Zeit. Wobei die Vorstellung, dass wir schon in einer nachmetaphysischen Zeit leben, allerdings von der Unterstellung ausgeht, dass die Metaphysik generell überwunden ist. Die Frage ist allerdings, ob es nicht noch eine andere Form der Metaphysik gibt als die traditionelle Metaphysik des Bleibenden, die in der Tat im Laufe philosophische Geschichte ihre Geltung eingebüsst hat? Dann gäbe es keine „nachmetaphysische Zeit“, sondern womöglich nur eine neue Form der Metaphysik in der Moderne. Eine Kritik, die davon ausgeht, dass mit der Überwindung der traditionellen Metaphysik des Bleibenden das Thema Metaphysik überhaupt erledigt wäre, wäre dann unzureichend, so wie das etwa in der Philosophie des Pragmatismus geschieht.
Vorrang der Methode
In einem Aufsatz von Dewey „Der Supremat der Methode“ wird versucht, auf das Problem, eine sichere Orientierung für das Handeln zu finden, eine Antwort zu finden. Ähnlich wie in dem Gleichnis von Descartes wird eine ungewisse Situation zum Ausgangspunkt der Suche nach einer geeigneten moralischen Methode. 27
Allerdings möchte Dewey ein Problem lösen, das nach ihm das moderne Leben bestimmt und die Moral eines vorwissenschaftlichen Zeitalters widerspiegelt und die nicht mit den Verfahrensweisen einer Welt zu vereinbaren ist, die sich plötzlich mit immenser Beschleunigung und durchgreifend von der Wissenschaft bestimmt findet. 28
Eine Entwicklung, die allerdings nach James auch berechtigte Zweifel hervorruft, denn das naturwissenschaftliche Wissen wächst mit einer solchen Geschwindigkeit, dass niemand seine Grenzen zu bestimmen vermag: Es ist nach ihm noch eine offene Frage, ob der Mensch den damit verbundenen Problemen auch gewachsen ist. Wer weiss daher nach ihm, ob der Organismus des Menschen „dem Ansturm der zu beängstigender Größe emporwachsenden Kräfte stand zu halten vermag, ob dieser Organismus der geradezu göttlichen Schöpferkraft gewachsen ist, die sein eigener Intellekt in seine Hände legt. Er ertrinkt vielleicht in seinem eigenen Reichtum, wie ein Kind in einer Badewanne ertrinken kann, wenn es die Wasserleitung aufgedreht hat und nicht wieder abzudrehen vermag. 29“
Die Instrumente der Naturbeherrschung gewinnen in der pragmatischen Vorstellung den Schein des Absoluten, den Schein der eigenen Unabhängigkeit, weil sie sich der Reichweite der menschlichen Beherrschung zu entziehen scheinen. Schon Hegel entwickelt die Idee der Entfremdung, die sich darauf bezieht, dass es – wie es Helmut Plessner ausdrückt - dem Eigensinn unserer Taten eigentümlich ist, Produkte hervorzubringen, die sich der Verfügungsgewalt der Menschen entziehen und sich gegen sie wenden. 30
Aber ist es wirklich der Eigensinn unserer Taten oder enthüllt sich in dieser Entwicklung nicht vielmehr der Grundzug der technischen Sphäre als Autonomie? Hinzuweisen ist auf die übliche Metapher von der Dämonie der Technik und ihrer Verführung, als gäbe es eine unumgehbare Notwendigkeit. 31
Für das pragmatische Denken beruht die traditionelle Moral auf unwandelbaren außerzeitlichen Prinzipien, was der modernen Naturwissenschaft widerspricht. Die Werte der traditionellen Moral sind daher aus dieser Sicht keine geeigneten Mittel mehr, um sich in der Moderne zurecht zu finden. Aus diesem Grund kann es für das pragmatische Denken auch keine vorläufige Moral wie bei Descartes geben, die noch den Anspruch auf Endgültigkeit voraussetzt.
Der Status der Vorläufigkeit ist aus pragmatischer Sicht im Unterschied zu Descartes für die Moral nicht aufzuheben. Kennt Descartes für den Bereich der Erkenntnis noch den Anspruch einer letzten Gewissheit, so gehört dieser Anspruch nach dem Pragmatismus zu einem ontologischen Erbe des Denkens, das es zu überwinden gilt.
Aus der Perspektive pragmatischer Moral kann Descartes moralische Regel für den Reisenden, der sich verirrt hat, nur als eine Art Notlösung erscheinen, als ein letztes Mittel, das in Situationen eingesetzt wird, in denen es an der notwendigen Zeit fehlt, um überlegen zu können. Das entschlossene Handeln des Descartes widerspricht nämlich dem pragmatischen Anspruch, dass, bevor gehandelt wird, die Situation zu reflektieren und nach einer der Situation angemessenen Lösung zu suchen ist. Was hier allerdings voraussetzt, dass die Ressourcen Zeit und Information für die Reflexion ausreichend zur Verfügung stehen und nicht wie es in der modernen Wirklichkeit der Fall ist, in einem Zeitalter der Beschleunigung zunehmend begrenzt werden.
Auch nach Dewey kommt es darauf an, wenn wir keinen intelligenten Hinweis haben, wie wir handeln sollen, entschlossen zu sein. Was aber heißt hier Entschlossenheit im Unterschied zu Descartes?
Entschlossenheit wird zu einer Aufgabe des Willens; „das heißt unter Anleitung des Denkens die Unbestimmtheit ungewisser Situationen zu lösen.“ 32Intelligenz ist nach Dewey eine Methode des Handelns, in der es nicht darum geht, irgendetwas in der Sache zu tun, sondern etwas über die Hindernisse und Hilfsmittel herauszufinden.
Wobei zu ergänzen ist, dass die experimentelle Methode des Pragmatismus noch weiter geht, indem sie als Mittel der Erkenntnis auch die bewusste Veränderungen der Dinge anstrebt. Die Dinge sollen nach der pragmatischen Vorstellung nicht nur hingenommen und anerkannt werden, wie sie sind, sondern zum Ziele der Kontrolle auch verändert werden. 33
Aus der Suche nach Gewissheit des Descartes wird die Suche nach Methoden der Kontrolle. Nicht auf das Disputieren kommt es nunmehr an, wie schon Bacon in „Novum Organum“ hervorgehoben hat, sondern dass die Natur durch die Tat unterworfen wird. Das „Buch der Natur“ soll nicht nur gelesen werden. Auch der Text der Natur selbst soll im Interesse einer Herrschaft über die Natur neu verfasst werden.
Die neue pragmatische Moral soll effektiv sein, sich an den Methoden der Wissenschaft orientieren, an einer Erkenntnis, die sich selbst korrigieren kann, die sich systematisch – wie Dewey es ausdrückt – mit menschlichen Prozessen befasst. 34Die Moral wird zu einer Sache der Verfahrensrationaliät. Zum primären moralischen Brennpunkt wird die konkrete Situation, die Frage, welche Handlung für eine bestimmte Situation richtig ist: „Eine moralische Situation ist eine, in der Urteil und Wahl vor der eigentlichen Handlung erfordert sind.“ 35Aus diesem Grunde bedarf es nach Dewey der Untersuchung, der Aufklärung, der methodischen Erkenntnis. Die Moral soll zu einer Frage der Situation werden, d.h. auch berücksichtigen, dass jede Situation ihre einzigartigen Ziele hat.
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