Björn nickte. Schlagartig war sein Interesse geweckt. Mit 'unserem speziellen Freund' meinte sein Chef den Mann, der sich immer wieder im erweiterten Blickfeld der Ermittler befand, an dem sie sich aber bislang die Zähne ausgebissen hatten.
Akram Fadel, Mitte dreißig, Mhallami-Kurde, hielt sich seit einiger Zeit in Berlin auf. Gesichert bekannt war nur, dass er in München an einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Clans beteiligt gewesen war. Eine Narbe an Hals und Kinn war ein bleibendes Andenken davon. Er wurde als brutal und absolut skrupellos beschrieben, einer, der die Ausputzer des Clans unter sich hatte, keiner der Bosse, aber ziemlich dicht in der Nähe angesiedelt. In Berlin hatte er sich bislang unauffällig verhalten, außer dass er bemüht war, seinen Aufenthaltsort zu verschleiern. Das einzig Auffällige war sein Lebensstil. Ein teures Auto und regelmäßige Nachtklubbesuche passten nicht zu einem Mann ohne Einkommen. Für konkrete operative Maßnahmen waren diese ersten Ermittlungsergebnisse nicht ausreichend, deshalb war es bislang bei einer lockeren Beobachtung geblieben.
Björn war mittlerweile zum stellvertretenden Leiter der EG aufgestiegen. Neben seiner Tätigkeit als Verbindungsbeamter für ausländische Dienststellen konnte er nun selbst bestimmen, ob und wie tief er in laufende Ermittlungen einstieg.
Die Vita des M-Kurden, der ganz offensichtlich eine Menge zu verbergen hatte, begann ihn mehr und mehr zu interessieren. Gespannt blickte er auf das startende Überwachungsvideo.
Datum und Uhrzeit wurden eingeblendet, die Aufnahmen waren über eine Woche alt. Wenn die Uhrzeit des Gerätes stimmte, spielte sich das Geschehen unmittelbar vor Mitternacht ab.
Ein Einfamilienhaus der gehobenen Kategorie, Typ Villa, dem Stil nach aber bereits in die Jahre gekommen. Es lag beinahe vollständig im Dunkeln. Nur neben der doppelflügeligen, schweren Eingangstür spendete eine altmodisch wirkende Laterne trübes Licht. In der grobkörnigen Aufnahme, die unter der mangelhaften Qualität des Beamers zusätzlich litt, war ein dunkler Kleintransporter mit eingeschaltetem Licht zu sehen, der rückwärts in der Zufahrt parkte. Die Seitenscheiben waren abgedunkelt, der Wagen wirkte neuwertig. Im schwachen Zwielicht der Eingangslaterne war zeitweise eine dünne Rauchwolke am Heck zu erahnen, der Motor lief also. Personen im Inneren des Fahrzeugs waren nicht zu erkennen.
Björn begann schon, unruhig zu werden, als sich die Haustür öffnete. Ein stämmiger Mann trat heraus, Hand in Hand mit einem zierlichen Mädchen. Den Kerl erkannte er trotz der schlechten Beleuchtung sofort, zu oft hatte er in der letzten Zeit die Akte des Typen studiert, ihn in natura beobachtet, sich das Gesicht, seine Bewegungen eingeprägt.
Akram Fadel.
Die Narbe, wie er intern nur noch genannt wurde, weil sich von seinem Kinn am Unterkiefer entlang bis fast zum rechten Ohr eine dünne Narbe zog. Der Kontrahent hatte seine Kehle nur knapp verfehlt.
Björn konzentrierte sich auf das Mädchen an der Hand des Kriminellen. Dunkle, glatte Haare, helle Haut, der Kopf war nach unten gesenkt, nur einmal war für einen winzigen Augenblick ein Teil des Gesichtes zu erkennen. Das Alter ließ sich durch die unzureichende Beleuchtung nur schätzen. Björn tippte auf zehn bis höchstens dreizehn Jahre. Es trug ein helles, festlich wirkendes Kleidchen und begleitete den Mann bis zum Wagen. Als wäre es völlig normal, kletterte es durch die geöffnete Schiebetür ins Innere und war gleich darauf den Blicken entzogen. Fadel nahm auf dem Beifahrersitz Platz, es hatte sich also eine weitere Person am Steuer befunden. Der Kleinbus setzte sich in Bewegung. Nun folgte eine Fahrt durch das nächtliche Berlin, unterbrochen von einem Schnitt im Video. Offensichtlich verfügte das Observationsteam nur über eine einzige Kamera, wenn die Verfolger sich abwechselten, gab es zwischenzeitig keine Aufzeichnung. Nach einem Schnitt von mehreren Minuten befand sich der Kamerawagen wieder hinter dem Bus. Plötzlich aber war etwas anders als zuvor, der Fahrer im Kleinbus änderte seine Fahrweise. Er verzögerte und rollte langsam auf die nächste Kreuzung zu, obwohl die Ampel grün zeigte. Erst beim Umspringen der Phase beschleunigte er und fuhr bei Rot in die Kreuzung hinein.
„Er hat es bemerkt“, raunte Björn und nahm neben sich im diffusen Licht nickende Köpfe wahr.
An der nächsten Kreuzung bestätigte sich seine Einschätzung, der Vorgang wiederholte sich. Diesmal kamen bereits Fahrzeuge des Querverkehrs ins Bild. Gleich darauf war das Video zu Ende, der Kleinbus war entwischt.
Unruhe machte sich breit, Stühle wurden verrückt, Neonlampen flammten auf. Jemand zog die Rollläden hoch und stellte zwei Fenster auf kipp, das nervige Lüftungssurren des Beamers erstarb endlich.
„Das war definitiv Akram Fadel, ich habe mir extra noch mal seine Bilder angesehen. Endlich haben wir etwas Konkretes.“
Moritz Hübner schaute unternehmungslustig in die Runde, er war wesentlich engagierter als sein Vorgänger, für den der Dienstposten nur eine Warteposition für höhere Weihen gewesen war.
„Was ist mit dem Auto?“, fragte jemand in die Runde.
„Eine Dublette. Das Originalfahrzeug stand an dem Tag der Aufzeichnung in einer Werkstatt. Es hat nicht die abgedunkelten Seitenscheiben, ansonsten ist es identisch. Mit Sicherheit sind auch die Fahrzeugpapiere sehr gute Fälschungen.“
„Wie sind die Kollegen auf dieses Auto gestoßen?“, wollte Björn wissen. Ihn wunderte vor allem, dass die Ermittler nicht auf den Namen von Akram Fadel gekommen waren.
„Keine Ahnung.“
Hübner zuckte mit den Schultern.
„Alles haben sie uns anscheinend nicht erzählt.“
„Habt ihr schon geklärt, wem das Haus gehört?“
„Ein Arzt im Ruhestand, verheiratet. Viel mehr wissen wir noch nicht. Wir müssen ihn noch auf Links drehen, die Info ist zu frisch. Dem ersten Anschein nach war er bislang sauber.“
„Seht zu, dass ihr den Wagen auftreibt“, mischte sich Hübner ein. „Immerhin hat uns das Video Kenntnis von einem weiteren Fahrzeug gebracht, das sich mit Fadel in Verbindung bringen lässt, besser als nichts. Wenn wir den Wagen finden, stoßen wir auf weitere Querverbindungen. Was guckst du so nachdenklich?“, wollte er von Björn wissen.
„Das Video eben sah mir verdammt nach Kinderprostitution aus. Wenn sich ein Mann wie Akram Fadel herablässt, selber Kindermädchen zu spielen, kann das keinen harmlosen Hintergrund haben. Ich schlage vor, dass wir uns ab jetzt mit einer kleinen Ermittlungsgruppe ganz auf unseren Mann konzentrieren.“
„Das war doch noch nicht alles, was du auf dem Herzen hast.“
„Nein.“
Björn fuhr sich mit der Hand an den Dreitagebart und massierte ihn. Dann schaute er seinen Chef an, den er noch nicht lange genug kannte, um ihn einschätzen zu können.
„Die Kollegen haben die Observation gründlich versaut. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, unsere Erkenntnisse zu teilen und die Ermittlungen dadurch womöglich zu gefährden. Wurden explizit wir angeschrieben oder ging die Anfrage an mehrere Dienststellen?“
Hübner grinste breit.
„Mehrere, der übliche Verteiler.“
„Na dann.“
3. Eine falsche Entscheidung
Die zerknüllte Zigarettenschachtel hüpfte, von den Bewegungen des schweren Fahrzeuges angetrieben, auf dem breiten Armaturenbrett hin und her. Gerrit Winter kam es so vor, als wollte sie ihn verhöhnen, wie vor ihm hin und her rollte, immer gerade so weit entfernt, dass er sie nicht mehr erwischen und endlich aus dem Fenster werfen konnte. Dabei war er selbst es gewesen, der die leere Schachtel verärgert mit der rechten Hand solange gequetscht und gepresst hatte, bis aus ihr beinahe eine runde Papierkugel geworden war. Die letzte Zigarette der Packung war längst geraucht, von hastigen Zügen fast bis zum Filter verbrannt, mit nikotinverfärbten Fingern im Aschenbecher ausgedrückt. Und weil naturgemäß alles, was nur noch begrenzt oder gar nicht mehr vorhanden ist, einen besonderen Reiz ausübt, wollte er sofort eine neue Kippe anzünden. Er hielt die leere Schachtel in der Hand, bis er am Stadtrand von Berlin endlich eine Möglichkeit sah, sich neu einzudecken. Gerrit ging vom Gas und wollte gerade anfangen, den Sattelschlepper abzubremsen, um ihn in zweiter Reihe auf dem Hauptfahrstreifen abzustellen, als im linken Außenspiegel ein blau-silberner Streifenwagen von hinten auftauchte, der sich auf der linken Spur heranschob. Die Cops wurden ebenfalls langsamer, als ob sie sich für ihn interessierten. Ob es möglicherweise einen anderen Grund gab, konnte Winter in dem vibrierenden Außenspiegel nicht erkennen. Die Gelegenheit zum Zigarettenkauf jedenfalls strich provozierend langsam am rechten Seitenfenster vorbei.
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