„Ich sage dem Spinner, dass er wegbleiben soll. Du schaffst das allein.“
Der Beifahrer setzte sich in Bewegung. Hinter ihm öffnete Hussein zuerst die im Tor eingelassene Tür, danach ließ er die Heckklappe nach oben schwingen. Geduldig wartete er im Schutz der Klappe auf das Erlöschen der von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichtquelle. Dabei ließ er seinen Mitfahrer, der sich dem entgegenkommenden Mann aus dem Flachbau näherte, nicht aus den Augen. In der Mitte des Platzes trafen sie aufeinander, blieben stehen, unverständliche Gesprächsfetzen drangen zu ihm herüber.
Das Licht erlosch, das Gelände lag schlagartig wieder im Dunklen wie zuvor, nur noch die Umrisse der beiden Personen waren durch die Umgebungshelligkeit zu erkennen. Der Fahrer beugte sich tief in den Innenraum und hob einen schmalen, in ein weißes Tuch gewickelten Körper hoch. Mit dem Bündel auf den Armen drehte er sich um, damit ihn die Männer auf dem Hof nur von hinten sehen konnten, und schlüpfte durch die Tür in die Halle hinein. Seine Vorsicht war unnötig gewesen, der Scheinwerfer sprang kein weiteres Mal an. Er drückte die Tür hinter sich mit der Schulter ins Schloss und bewegte sich im Dunklen mit vorsichtigen Schritten auf eine bestimmte Stelle an der Wand zu. Schmutzpartikel knirschten unter seinen Sohlen. In der Halle roch es nach Öl, Gummi und verbranntem Diesel. Das monotone Brummen eines eingeschalteten Elektrogerätes füllte den Raum aus.
Der Mann erreichte die Wand, warf sich den zierlichen Körper über die Schulter. Seine Finger tasteten sich an einer Reihe von Schaltern entlang nach unten. Auf den Letzten drückte er, im hinteren Bereich der Halle sprang ein trübes Licht an, so schwach, dass es vorn von der Straße aus kaum zu sehen sein dürfte.
Ein Sattelschlepper parkte rückwärts in dem riesigen Raum. Vom Fahrzeug führte ein Kabel zu einer Steckdose in der Wand und versorgte das Aggregat für den Kühlauflieger mit Strom.
Hussein hastete an dem Lastzug vorbei. Aus seiner Hosentasche fischte er einen Schlüssel und versuchte, mit einer Hand die Heckklappen zu öffnen. Als ihm dies nicht gelang, musste er den eingewickelten Körper auf dem schmutzigen Boden ablegen. Er entriegelte das Schloss und zog mit beiden Händen an den klemmenden Türen, erst beim zweiten Mal gelang es ihm, sie aufzuziehen. Anschließend hob er den Körper auf und platzierte ihn behutsam auf die vordere Kante des Laderaumes, bevor er selber hinterher kletterte.
Gekühlte Luft umgab ihn und ließ ihn augenblicklich frösteln. Trotz der Kühle nahm er den typischen Geruch von Fleisch wahr, rohes Fleisch und geronnenes Blut. Im schwachen Licht der Hallenbeleuchtung sah er die geschlachteten und halbierten Tierkörper dicht an dicht an den Haken hängen. Er schob sich vorsichtig weiter in den Anhänger hinein, bis er meinte, etwa die Mitte erreicht zu haben. Den Körper auf seiner Schulter ließ er erneut vorsichtig zu Boden gleiten und wickelte ihn aus dem Tuch heraus. Dabei stieß sein Kopf immer wieder gegen eine der Tierhälften, die unangenehmen Berührungen ließen ihn zusammenzucken. Als der blasshäutige Körper ohne den Schutz des Tuches vor ihm lag, wandte er den Blick ab, er konnte nicht hinschauen. Seine persönlichen Empfindungen musste er unbedingt verdrängen, er war nur noch funktionierendes Glied in einer Kette. Hussein stand auf und versuchte, zwei der Tierhälften auseinander zu schieben, um einen Zwischenabstand zu bekommen. Mit spitzen Fingern drückte er gegen das von der Haut befreite Fleisch, zuckte aber sofort zurück. Auf der Oberfläche war bereits ein schleimiger Film entstanden. Angewidert nahm er das Tuch und band es um eines der Tiere, um seine Hände und seine Kleidung zu schützen. Der Versuch, es zu verschieben, scheiterte an dem zu hohen Gewicht. Es schwang nur minimal hin und her und kehrte sofort in seine Ausgangsstellung zurück. Kopfschüttelnd bewegte er sich durch die hängenden Tierkörper hindurch zum Heck des Lastzuges. Er sprang von der Ladekante herab und erschrak, als sein Blick auf Beine fiel, die unmittelbar vor ihm auftauchten. Erleichtert registrierte er, dass es sein Beifahrer war, der lautlos in die Halle gekommen war.
„Was brauchst du denn so lange?“, herrschte Akram ihn an.
„Du musst mir helfen, komm mal rein.“
„Wirf sie auf den Boden, das wirst du doch hinbekommen.“
„Nein“, beharrte Hussein. „Wir müssen sie verstecken, falls jemand hineinguckt. Der Fahrer vielleicht, eine Kontrolle, wer weiß.“
„Der Idiot wird sich hüten.“
„Wir könnten sie in das Versteck legen“, schlug Hussein vor.
„Viel zu aufwendig, das zu öffnen. Du nervst mich, Mann.“
Schließlich kletterte er dem Fahrer hinterher, die Erwähnung einer Kontrolle während der Fahrt hatte ihm anscheinend zu denken gegeben. In seinem Rücken konnte Hussein die Flüche hören, während sie sich durch die schweren Körper hindurchzwängten.
»Wir müssen eines der Viecher verschieben, das schaffe ich nicht allein. Fass mit an.«
Gemeinsam gelang es ihnen, eine der Tierhälften zu verrücken. Durch die Form der Rippen ergab sich ein kleiner Hohlraum. Sie rissen das Tuch in Streifen, banden die kalten Hände zusammen und hängten den Leichnam zwischen die Hälften. Mit einem weiteren Tuchstreifen zurrten sie die Haken am Kopfende zusammen, um ein Auseinanderklaffen des Arrangements zu verhindern.
Ein schlankes Bein schob sich heraus und musste in die alte Position gedrückt werden.
„Eine Schande ist das“, brachte der Fahrer mit belegter Stimme heraus. Niemand hatte es verdient, so entsorgt zu werden, niemand.
„Und ob“, brummte Akram und wischte sich die Hände ab.
Hussein war das Glitzern in Akrams Augen beim Betrachten des Körpers nicht entgangen.
Niemand hatte es verdient, bekräftigte Hussein seine Gedanken und schaute zur Seite. Niemand, außer Akram vielleicht.
2. Nur ein Film
Berlin, Frühsommer 2015.
Björn Liebermann warf im Gehen einen Blick auf die Uhr. Er war spät dran an diesem Morgen, beinahe dreißig Minuten später als üblich. Seine Gedanken kreisten immer noch um Mariola, während er in gemächlichem Tempo über den Flur ging. Seine Abneigung, was Besprechungen im Allgemeinen und tägliche Frühbesprechungen im Besonderen anging, hatte sich bei seinen Kollegen längst herumgesprochen. Kein Grund also, sich zu beeilen. Mit etwas Glück käme er um das ungeliebte Ritual herum, irgendwer würde ihm schon die wenigen wichtigen Neuigkeiten erzählen.
Mariola. Ihr klammerndes Verhalten wurde bei jeder ihrer Verabschiedungen anstrengender. Was als One-Night-Stand gedacht gewesen war, entwickelte sich immer mehr zu einer festen Teilzeitbeziehung, einer Art Freundschaft-Plus. Dabei hatte er sich überhaupt nur auf die Beziehung eingelassen, weil die attraktive Dolmetscherin in Polen verheiratet war.
Der Hauptkommissar erreichte die Tür zum Besprechungsraum und öffnete sie. Eine Wolke warmer, verbrauchter Luft nahm ihn in Empfang, gleichzeitig stutzte er, weil das Zimmer abgedunkelt und nur durch einen eingeschalteten Beamer schwach erhellt wurde.
„Immer noch zu früh“, war deshalb sein erster Gedanke.
Mit einem knappen 'Moin' schob er sich an drei Kollegen vorbei, um seinen angestammten Sitzplatz zu erreichen.
„Fang mit dem Video noch mal von an, Jürgen. Es läuft ja erst seit zwei Minuten.“
Moritz Hübner, Kriminaloberrat und seit drei Monaten sein Vorgesetzter in der Ermittlungsgruppe für Banden- und Schwerstkriminalität, wandte sich Björn direkt zu.
„Das Video kam gestern Nachmittag per Mail rein, es wurde von den Kollegen der Bundespolizei aufgenommen. Sie ermitteln, angeblich nach einem anonymen Anruf, wegen illegaler Schleusungen und fragen an, ob wir die aufgezeichneten Personen identifizieren können. Ich hab schon mal reingeschaut. Die Aufnahmen geben einen interessanten Ansatz auf unseren speziellen Freund, das könnte vielleicht für uns von Bedeutung sein.“
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