Der Fremde verbeugte sich. "Sehr freundlich von euch, mein Herr! Ich bin wie immer stets zu Diensten. Wenn ihr mich braucht, wisst ihr, wo ihr mich findet!"
Marco nickte nochmals. "Danke! Und kein Wort über diese Sache, verstanden?"
Der Fremde sah ihn mit ernster Miene an. "Welche Sache, Herr?" Er lächelte dünn. "Seid unbesorgt. Eine Hand wäscht die andere!" Er räusperte sich. "Wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir!"
"Natürlich!" erwiderte Marco.
Im nächsten Moment wandte sich der Fremde mit einer letzten Verbeugung um und verließ das Zimmer durch eine Balkontür, wo er über eine Treppe hinunter auf den Markplatz gelangte.
Kuja sah dem Fremden noch hinterher, dann drehte er sich zurück, drückte seinen Körper an die Wand hinter ihm und war für einen Augenblick wie erstarrt. Gleichsam war sein Kopf wie leergefegt, während er mit weit geöffneten Augen ins Leere starrte.
Schnell aber begann er zu begreifen, was er dort eben gehört hatte. Sein Vater, offensichtlich misstrauisch gegenüber dem, was Kuja ihm erzählt hatte, hatte einen Vertrauten in das Bergdorf geschickt, um weitere Informationen einzuholen. Doch noch während Kuja sich brennend fragte, wo er seinem Vater bei seiner eigenen Erzählung auch nur einen Ansatz von Misstrauen geliefert hatte, wurde er sich eiskalt bewusst, dass der Fremde seine Lüge hatte auffliegen lassen.
Sein Vater wusste jetzt, dass nicht Giovanni, sondern er, Kuja, mit Marietta im Bett gelegen hatte.
Was aber hieß das jetzt bzw. was änderte diese Tatsache am Status Quo?
Kuja kannte die Antwort nur einen Lidschlag später: Alles!
Kuja war mit Marietta fremdgegangen, obwohl er Mariella heiraten wollte. Dabei waren sie von Burini erwischt worden. Am Ende waren Tizian und Giovanni tot und als der Verdacht auf Marietta fiel, hatte Kuja die Gunst der Stunde ausgenutzt und sie hinrichten lassen, um sicher sein zu können, dass die Schwere seines Fehltritts nie publik wurde.
So jedenfalls würde Kuja die Sache sehen, wenn sein Vater an seiner Stelle gewesen wäre.
Das war nicht nur Verrat an seiner Ehefrau, sondern auch Amtsmissbrauch, um Marietta zum Schweigen zu bringen. Beides schwerwiegende Verbrechen. Das eine moralisch, das andere rechtlich. Und das bei ihm als amtierenden Fürsten! Damit besaß sein Vater ein enormes Druckmittel gegen ihn, das ihn manipulierbar machte und Kuja sogar seine Krone kosten konnte.
Und nicht nur das: Mit dem jetzigen Wissen würde sein Vater keine Ruhe geben. Und wer wusste schon, was Marco sich in seiner Fantasie vorzustellen vermochte? Er könnte Burini der Morde verdächtigen oder gar ein Komplott zwischen Burini und Kuja vermuten!
Alles Dinge, die Kuja nicht gebrauchen konnte und die am Ende sogar dazu führen konnten, dass sein eigener Vater ihm auf die Schliche kam und erkannte, dass Kuja die Morde in Wahrheit begangen hatte!
Oh Gott! Oh großer Gott! Nein, das durfte niemals geschehen!
Er musste überlegen, was er dagegen unternehmen, vor allem aber, wie er dagegen vorgehen konnte.
*
Kuja drückte sich von der Wand ab. Er brauchte jetzt frische Luft und musste dringend auf andere Gedanken kommen.
In dem Moment aber, da er an der Tür vorbeihuschen wollte, trat Marco aus dem Raum.
Sein Vater blieb wie angewurzelt stehen und starrte seinen Sohn mit großen Augen an. "Kuja!" stieß er hervor. "Was…? Wie...?" Er war sichtlich geschockt und sofort deutlich nervös. "Was machst du denn hier?"
Kuja, der im allerersten Moment ebenfalls geschockt war, dass sein Vater aus dem Raum trat, fing sich überraschend schnell. Für einen Augenblick spürte er ein leichtes Druckgefühl unter der Haut seiner Unterarme, doch das verging sofort wieder. Stattdessen erkannte er mehr als deutlich, dass es seinem Vater nicht nur extrem unangenehm war, hier und jetzt auf Kuja zu treffen, sondern er sich auch ertappt fühlte. "Ich war pissen!" erklärte Kuja und fixierte Marcos Blick.
"Ach…!" erwiderte sein Vater, wobei er sichtlich nervös wirkte. "…so!" Marco lächelte, doch wirkte es eher dämlich. "Dann bist du hier nur vorbeigekommen!?"
Kuja spürte die Nervosität seines Vaters und musste tatsächlich lächeln, während er ein neuerliches Druckgefühl unter der Haut im unteren Halsbereich wahrnahm. "Nein…!" erklärte er ruhig und mit klarer Stimme. "…bin ich nicht!"
Jetzt wurde Marco erst recht nervös. "Soll das heißen?" Er musste einmal schlucken. "Wie lange bist du dann schon hier?"
Kuja verspürte deutlich aufkommende Verärgerung. Über seinen Vater, seine Zweifel an Kujas Worten, das Treffen mit dem Fremden und seinen Auftrag an ihn. "Lange genug!" Seine Stimme klang eisig. Gleichzeitig spürte er das Druckgefühl jetzt direkt in seinem Gesicht. Im nächsten Moment trat er einen Schritt vor, direkt auf seinen Vater zu.
Marco erschrak und wich zurück. Daraufhin machte Kuja noch drei weitere Schritte, wobei sein Vater jedes Mal zurückwich. Mittlerweile standen sie wieder mitten im Raum.
"Dann hast du…!" begann Marco. Seine Stimme klang zittrig. Doch plötzlich brach er ab und starrte seinen Sohn beinahe schon entsetzt an. "Oh Gott, Kuja! Was ist mit dir los? Was hast du da in deinem Gesicht?"
Kuja wusste bereits, was sein Vater meinte, noch bevor er seine rechte Hand hob und über die wurmähnlichen, sich unter seiner Haut schlängelnden Ausbuchtungen hinwegstrich. Als er es fühlen konnte, grinste er mit funkelnden Augen. "Das ist nichts!"
"Aber…?" Marco war fassungslos. "Um Himmels Willen, Kuja. Du musst sofort zu einem Arzt!"
Doch sein Sohn schüttelte den Kopf, während er spürte, wie sich mittlerweile überall auf seinem Körper etwas unter seiner Haut bewegte. "Warum hast du das getan, Vater?" fragte er stattdessen.
" Was getan?"
"Du hast meine Worte angezweifelt!"
"Ich…!" Plötzlich wurde Marco deutlich ruhiger. Mit einem tiefen Atemzug straffte er seinen Körper. Als er wieder ausatmete war die alte Sicherheit des ehemaligen Fürsten beinahe zurückgekehrt. "Du hast mich angelogen!"
Kuja sah ihn verächtlich an, dann wog er den Kopf hin und her. "Eine kleine Notlüge! Mehr nicht!"
Doch Marco schüttelte den Kopf. "Wenn es nur darum ging, zu vertuschen, dass du mit Marietta im Bett gewesen bist, hättest du dir das sparen können!" erklärte sein Vater. "Du weißt doch auch von meinen Fehltritten! Dein Geheimnis wäre bei mir sicher aufgehoben gewesen!" Er wartete bis Kuja ihn ansah, wobei er wieder geschockt war über die sich unter seiner Gesichtshaut schlängelnden Würmer, die jetzt immer zahlreicher und immer deutlicher zu sehen waren und sich immer aktiver bewegten. "Und weil ich wusste, dass du das weißt, habe ich mich gefragt, warum du mich dennoch angelogen hast?"
"Und?" Kuja sah ihn mit finsterer Miene an. "Wie lautete deine Antwort?"
"Dass du etwas vor mir verbirgst!" erwiderte Marco sofort. "Was ist es, Kuja? Was ist dort oben auf dem Berg wirklich geschehen? In der Höhle? Was ist dort passiert? Mit dir? Hast du am Ende deine Freunde gar getötet?" Sein Gesicht verzog sich zu einer gequälten, ja fast verzweifelten Grimasse. "Oh Kuja, sieh dich doch an! Dein Gesicht, diese… Dinger unter deiner Haut. Du brauchst Hilfe. Du bist krank!"
Kuja sah seinen Vater direkt an und aus seinem Blick trat immer mehr Hass zu Tage. "Ja, ich bin krank!" zischte er. "Und ja, ich brauche Hilfe!" Er verzog die Mundwinkel zu einem verächtlichen Lächeln. "Aber für dich…!" Plötzlich machte er einen Schritt nach vorn, riss seine Arme in die Höhe, donnerte seine flachen Hände auf Marcos Brustkorb und versetzte ihm einen derben Stoß, dass er mit einem Aufschrei zurücktaumelte. Bevor er noch etwas dagegen tun konnte, fiel er rücklings auf eine große Couch in der Mitte des Raumes. Kuja stürzte hinter ihm her und war sofort wieder bei ihm. Während er seinem Vater das rechte Knie in den Magen schlug, riss er eines der Kissen an sich. "…kommt leider jede Hilfe zu spät!" Und mit diesen Worten drückte er Marco das Kissen blitzschnell auf sein Gesicht. Sein Vater schrie auf, versuchte zunächst, es mit beiden Händen zur Seite zu drücken. Als ihm das nicht gelang, schlug er mit den Fäusten nach Kuja. Doch der drückte mit seiner ganzen Kraft und mit seinem gesamten Gewicht auf ihn. Dabei stöhnte er schwer, doch wich er keinen Millimeter ab. Kujas Gesicht wurde puterrot und Dutzende von Würmern schlängelten sich wild und ekstatisch unter seiner Haut, auch an seinen Armen und auf seiner Brust, während seine Augen wild und wirr auf das Kissen hinabstarrten. Es war ein absolut gespenstischer Anblick.
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