Nachdem er sein Menthe à l’eau ausgetrunken hatte, stand Karl unruhig auf und sah sich aufmerksam die Bilder des Formel-1-Idols an, die in der Nähe der Vitrine an der Wand hingen. Dort sah man ihn: Bild neben Bild, Triumph neben Triumph. Immer wieder das Siegertreppchen, immer wieder dieselben Gesichter und immer wieder, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Renaultzéro Martinez auf der höchsten Stufe – der Champion.
»Ja, das waren noch Zeiten«, seufzte Martinez, der gesehen hatte, dass sich Karl für seine Triumphe früherer Jahre interessierte.
»Da gibt es zwei, die sich das Treppchen besonders oft mit Ihnen geteilt haben, Ihre härtesten Konkurrenten, vermute ich.«
»Du meinst sicher Sergio Toppi und Dino Attanasio, meine beiden größten Rivalen. Ach, was haben wir uns für Rennen geliefert damals...«
»Leben die beide noch?«, erkundigte sich Karl.
»Ja, aber Toppi hat es in seinem siebten Rennjahr, dem verflixten siebten Jahr, bei einem Unfall schwer erwischt. Schwere Verbrennungen haben sein Gesicht entstellt, so dass er anschließend immer mit einer Eisenmaske herumrennen musste, die sein halbes Gesicht bedeckt. Er ist danach sogar noch gefahren. Man nannte ihn Sergeacier , den eisernen Sergio. Aber an die großen Triumphe von vorher konnte er nicht mehr anknüpfen. Er schaffte nur noch einmal Platz drei. Das ist das Bild ganz links.« Karl wanderte die Wand entlang und entdeckte Sergeacier auf einem der hinteren Bilder: Mit seiner Eisenmaske, auf der sich die Sonne spiegelte, sah er furchterregend aus. »Ihr müsst wissen«, fuhr Martinez fort, »die Psyche macht einfach nicht mehr mit nach so einem Unfall. Man will weiterhin sein Bestes geben, aber gerade an den schwierigen Stellen, wo man früher voll draufgehalten hat, da bremst man plötzlich und wird vorsichtig. Die Angst fährt immer mit. Man hat eben nur ein Leben.«
»Hatten Sie auch mal einen Unfall?«
»Keinen schlimmen zum Glück. Aber als Rennfahrer weiß ich natürlich trotzdem, wovon ich spreche.«
»Wann haben Sie aufgehört?«
»Vor jetzt ziemlich genau fünfzehn Jahren. Nach meinem dritten WM-Titel. Ich wusste einfach, noch mal kann ich das nicht bringen. Es war auch verdammt knapp: Nur ein einziger Punkt trennte mich von Attanasio. Hätte er mich im letzten Rennen geschlagen, wäre er Weltmeister gewesen. So dicht ist er danach nie wieder an einen Titel herangekommen. Man muss die Zeit nutzen, wenn sie reif ist.«
»Haben Sie sich eigentlich immer gut mit Ihren Konkurrenten verstanden?«, wollte Karl wissen. »Die Rivalität muss doch enorm sein, wenn es um so viel geht.«
»Man muss zwischen Sport und Leben trennen können. Ich konnte das immer. Und schau dir doch die Siegesbilder an. Wenn uns der Champagner um die Ohren spritzte, dann waren die Rivalitäten auf der Piste vergessen!«
»Ja«, sagte Karl gedehnt und nahm wieder Platz, »verstehe.«
»Aber was ich nicht verstehe, ist, dass die Videokameras nichts aufgezeichnet haben und auch keine der Alarmanlagen funktioniert hat«, klagte Martinez. »Als ob ein Geist den Jungen entführt hätte!«
»Ich werde mir die technischen Anlagen nachher mal in aller Ruhe ansehen«, schlug Kurt vor.
»Kurt ist unser Technik-Genie«, erklärte Karl mit einem Lächeln. »Und die Stimme am Telefon? Kam die Ihnen irgendwie bekannt vor oder ist Ihnen etwas an ihr aufgefallen, vielleicht ein nordafrikanischer Akzent?«
»Ja, ja, genau«, antwortete Martinez hastig. »Woher –?«
»Vielleicht haben wir mit den Entführern schon Bekanntschaft gemacht. Bobine hat Ihnen ja am Telefon erzählt von dem jungen Hamid und seinen Verfolgern. Und das ist auch die Spur, der wir jetzt als Allernächstes nachgehen sollten. Das Rätsel um die Entführung können wir hier an Ort und Stelle sowieso nicht lösen. Wie Sie schon sagten: als ob ein Geist den Jungen entführt hätte. Jetzt kommt es in erster Linie darauf an, den Jungen zu finden, und nicht darauf, unzweifelhaft zu klären, wie er entführt wurde. Wir haben eine Spur, das ist Hamid, der bei uns im Hotelzimmer wahrscheinlich vor dem Fernseher sitzt, und diese Spur werden wir verfolgen.«
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich tue, wenn ich euch Kin-, euch jungen Leuten dies alles anvertraue«, seufzte Martinez, »aber ihr seid meine einzige Chance! Und ich muss schon sagen, dass ihr mich mit eurem Auftreten beeindruckt habt. Ihr wirkt wahrhaftig nicht wie Kinder.«
»Vielen Dank. Wir wollen tun, was in unseren durchaus begrenzten Möglichkeiten steht«, versprach Karl.
»Aber passt nur gut auf, dass Silly nichts passiert!«, schränkte Martinez besorgt ein.
»Und auf euch selbst auch«, sagte Sandrine und blies den Rauch ihrer fünften Zigarette an diesem Morgen in die Luft.
Kapitel 4: Noch eine Entführung
Karl lag ja weiß Gott mit seinen Mutmaßungen nicht oft daneben. Aber die Annahme, man werde Hamid bei der Rückkehr ins Hotel vor dem Fernsehgerät sitzend vorfinden, war grundfalsch. Nicht etwa, dass Hamid französisches Fernsehen langweilig gefunden hätte, die Sache war nur die:
»Hamid ist weg!«
Bobine, die die vornehmen Räumlichkeiten als Erste betreten und rasch die drei Zimmer der Suite in Augenschein genommen hatte, war es, die zu diesem überraschenden Befund kam.
»Wo kann er denn hin sein?«, wunderte sich Karl.
»Unten in der Empfangshalle vielleicht?«, vermutete Bobine.
Die Freunde bestiegen umgehend wieder den Fahrstuhl, aus dem sie gerade erst gekommen waren, um nach dem Jungen zu forschen. An der Rezeption bekamen sie die Auskunft, dass der junge Mann das Hotel vor etwa zwei Stunden in Begleitung zweier Herrschaften mittleren Alters verlassen habe. Die Beschreibung, die der Hotelangestellte gab, ließ keinen Zweifel daran, dass es für Hamid ein ebenso unerwartetes wie unerfreuliches Wiedersehen mit Alfredo und Laurent gegeben haben musste.
»Tess!«, schimpfte Karl, als das Ausmaß der Katastrophe ihm zu vollem Bewusstsein gekommen war. Die anderen beiden, die ihn verständnislos angesehen hatten, als dieses Wort noch ganz neu war, hatten sich an »Tess« gewöhnt. »Tess« war ein von Karl erfundener, völlig sinnloser Ausdruck, der es ermöglichte zu fluchen ohne dabei in eine ungebührliche oder gar unschickliche Redeweise zu verfallen. »Tess« hatte unbestreitbare Vorzüge: Es knallte wie ein Peitschenschlag durch die Luft, war enorm kurz und damit unerhört praktisch. Es hatte keinerlei Bedeutung und nur einen Zweck: angestautem Ärger Luft zu machen. So wie jetzt.
»Aber er muss sich doch gewehrt, geschrien haben«, wunderte sich Bobine.
»Nicht wenn sie ihn unter Druck gesetzt haben. Vielleicht mit einer Waffe«, entgegnete Karl. »Oder sie haben ihn wieder mit dem schönen Leben in Frankreich geködert. Er ist eben nur ein Kind.«
»Aber wie haben die uns nur gefunden?«
»Die Anzahl der Hotels in Marseille ist nicht unendlich. Sie werden wahrscheinlich so viele abgeklappert haben, bis sich eine Spur fand. Drei Jugendliche aus Hockey Beach, erstaunlich selbstständig, offenbar ohne Vormund – nicht der schlechteste Anhaltspunkt.«
»Na, dass dein Vater ständig auf der Müllverbrennungsanlage rumturnen und sich den Rest der Zeit übermüdet in seine Koje auf Zimmer 876 zurückziehen würde, konnten die ja wohl kaum wissen.« Frustriert nahmen die Freunde unter einem der riesigen Kronleuchter in den bequemen schwarzen Foyer-Sesseln Platz.
»Wie auch immer, ich könnte mir in den Hintern beißen, dass wir dieses Risiko nicht einkalkuliert und Hamid so leichtsinnig allein gelassen haben. Jetzt haben wir den Salat!«
»Und keine Chance mehr die Dolores zu finden«, fügte Bobine hinzu.
»Nun«, wollte sich überraschend Kurt zu Wort melden, der bekanntlich nur den Mund aufmachte, wenn es etwas wirklich Wesentliches zu sagen gab. Er wurde jedoch von einem kräftigen »Guten Morgen!« abgewürgt. Der deutsche Gruß hallte durch die ganze Lobby. Allen war sofort klar: Der unlängst erwähnte Professor Kramer war auf der Bildfläche erschienen. Tatsächlich war der renommierte Ingenieur soeben dem Fahrstuhl entstiegen, hatte seinen Sohn und dessen zwei Freunde erblickt und kam eiligen Schritts auf die Gruppe zu. »Na, Kinder, alles klar?« Karl hasste dieses gönnerhafte »Na, Kinder...?«, machte aber wie immer gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte den Morgengruß seines Vaters. Der stellte seine uralte schwarze Aktentasche ab, nahm auf einem der ledernen Sessel neben ihnen Platz und erkundigte sich: »Hattet ihr einen schönen Tag gestern?« Die Kinder nickten und bejahten im Chor. »Habt ihr was Schönes erlebt?«, fuhr der vielfach ausgezeichnete Spitzentechnologe fort.
Читать дальше