Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, viel über meine eigenen Angelegenheiten zu schreiben, denn es ist mir durchaus bewusst, dass es nur meine lange und enge Bekanntschaft mit Mr Sherlock Holmes und die Einsichten in seine deduktiven Methoden sind, was eine breitere Öffentlichkeit interessiert. Ja, ich habe sogar oft gedacht, dass ich wahrscheinlich einfach nur meiner Berufung als Mediziner gefolgt wäre und nie ein Wort zu Papier gebracht hätte, wenn es diese zufällige Begegnung mit ihm nicht gegeben hätte, als ich bei meiner Rückkehr nach London seinerzeit eine billige Unterkunft suchte.
Und doch sind in diesen Aufzeichnungen zwangsläufig immer wieder gewisse Aspekte dessen aufgetaucht, was man mein Privatleben nennen könnte. Die geneigten Leserinnen und Leser werden sich vielleicht an die Verwundung erinnern, die ich in der kritischen Schlacht in Maiwand erlitten habe, und an die zahlreichen Beeinträchtigungen, die sie im Verlauf meiner späteren Karriere zur Folge hatte. Ich glaube, dass ich gute Gründe hatte, meinen älteren Bruder Henry zu erwähnen, der nicht nur alle anderen Menschen in seinem Leben, sondern auch sich selbst sehr enttäuschte, daraufhin zur Flasche griff und jung verstarb. Wesentlich erfreulicher war meine Ehe mit der damaligen Miss Mary Morstan, die schon deshalb eine zentrale Rolle in einem meiner Berichte gespielt hat, weil ich sie niemals kennengelernt hätte, wenn sie damals keine Klientin von Sherlock Holmes gewesen wäre. Ich habe sie von Anfang an geliebt und habe das gegenüber meinen Leserinnen und Lesern auch nie zu verbergen versucht – wozu auch? Wir wurden kurz darauf getraut, und obwohl unsere Verbindung nicht lange währte, waren wir einander so nahe, wie Mann und Frau es nur sein können.
Unsere erste Wohnung lag in einer stillen Straße in der Nähe der Paddington Station. Das ist vielleicht nicht gerade der eleganteste Stadtteil, aber sehr gut für die Eröffnung einer privaten Praxis geeignet. Es war ein angenehmes Haus, mit einem großen, luftigen Sprechzimmer im Hochparterre und zwei darüber gelegenen Stockwerken, die meine junge Frau mit Anstand und gutem Geschmack einzurichten begann. Ich muss allerdings zugeben, dass ich zumindest anfangs ein schwer zu definierendes Unbehagen dabei empfand, als ich mich plötzlich von allen Wahrzeichen einer Häuslichkeit umgeben sah, bei der alles an Ort und Stelle stand und kaum etwas zu finden war, das irgendwie überflüssig gewesen wäre. Selbst das Hausmädchen, eine adrette kleine Person, die alles tat, um mir aus dem Wege zu gehen, erfüllte mich mit einem unbestimmten Gefühl der Bedrohung. Es war eine eigenartige, unbehagliche Situation. Einerseits war ich vollkommen glücklich, andererseits fehlte mir etwas, von dem ich nicht sagen konnte, was es wohl sein könnte.
Es ist mir fast ein bisschen peinlich, dass ich so lange brauchte, um die Ursache meines Unbehagens zu diagnostizieren. Dabei war es ganz einfach: Die vielen Monate, die ich in der Baker Street 221b verbrachte, hatten mich natürlich geprägt. Ich vermisste meine alte Umgebung. Sicher hatte ich mich oft genug über die scheußlichen Gewohnheiten von Holmes beschwert: seine Weigerung, irgendein Dokument wegzuwerfen, sodass alle Regale, Tische und sonstigen horizontalen Flächen meterhoch mit allen möglichen Papieren bedeckt waren, der hohe Verschmutzungsgrad, den seine Zigarrenasche im Kohlenkasten und sonst wo verursachte, die Reagenzgläser, Bunsenbrenner und Mischkolben, die auf dem Frühstückstisch standen, die Patronenhülsen, die auf dem Fensterbrett aufgereiht waren und der Tabak, der in einem persischen Pantoffel aufbewahrt wurde. Nun, jetzt vermisste ich sie. Wie oft war ich zu den schrägen Klängen seiner Stradivari zu Bett gegangen oder mit dem Duft seiner ersten Morgenpfeife in der Nase erwacht? Und zu alledem kam noch das bizarre Sortiment von Besuchern, die den Weg zu unserer Tür fanden – der Großherzog von Böhmen, der Schreiber, der Lehrer oder natürlich der eine oder andere Inspektor von Scotland Yard.
Im Jahr nach meiner Eheschließung hatte ich Sherlock Holmes nur wenig gesehen. Ich hatte mich vielleicht sogar absichtlich ferngehalten von ihm, denn im Hinterkopf hatte ich wohl die Befürchtung, meine neugewonnene Ehefrau könnte es missverstehen, wenn ich dem Junggesellenleben nachlief, das ich gerade hinter mir gelassen hatte. Außerdem, das muss ich zugeben, hatte ich die Befürchtung, auch Sherlock Holmes könnte sich inzwischen anderweitig orientiert haben. Die Vorstellung, ich könnte einen neuen Untermieter bei ihm vorfinden, war mir sehr unangenehm, obwohl eine solche Situation nicht sehr wahrscheinlich war, denn seine finanziellen Verhältnisse machten es eigentlich unnötig, dass er seine Wohnung mit jemandem teilte.
Von alledem sagte ich nichts, aber meine Mary kannte mich wohl schon besser, als ich gedacht hatte, denn eines Abends legte sie ihr Nähzeug beiseite und sagte: »Du musst wirklich Mr Holmes mal wieder besuchen.«
»Wie um alles in der Welt kommst du auf Mr Holmes?«, fragte ich.
»Na, du hast mich darauf gebracht!«, lachte sie. »Ich habe schon die ganze Zeit gemerkt, dass du an ihn gedacht hast. Du brauchst es gar nicht abzustreiten. Gerade eben erst hast du deine Augen auf der Schublade ruhen lassen, in der du deinen alten Armeerevolver aufbewahrst. Und ich habe deutlich gesehen, wie du bei der Erinnerung an ein Abenteuer gelächelt hast, das ihr zusammen erlebt habt.«
»Du bist ja die reinste Detektivin, mein Schatz. Holmes wäre bestimmt stolz auf dich.«
»Auf jeden Fall wird er sich freuen, dich zu sehen, da bin ich mir sicher. Du musst ihn gleich morgen besuchen.«
Weitere Ermutigungen brauchte ich nicht, und nachdem ich die wenigen Patienten abgefertigt hatte, die in meine Praxis kamen, machte ich mich am nächsten Tag auf den Weg. Meine Absicht war, zur Teestunde am Nachmittag bei ihm einzutreffen.
Der Sommer des Jahres 89 war außerordentlich warm, und als ich in der Baker Street ankam, stach die Sonne heftig auf mich herunter. In der Nähe meiner alten Behausung hörte ich zu meiner Überraschung laute Musik und stieß auf eine Menschenmenge, die sich um einen tanzenden Hund versammelt hatte, der allerlei Tricks vollführte, während sein Herrchen ihn auf der Trompete begleitete. Solche Straßenkünstler fand man damals überall in der Hauptstadt, obwohl dieser sich ungewöhnlich weit vom Bahnhof entfernt hatte, wo man sie sonst immer antraf. Ich war gezwungen, den Bürgersteig zu verlassen und um die Gruppe herumzugehen, um die vertraute Eingangstür zu erreichen, wo ich von dem Pagen empfangen wurde, der mich hinaufführte.
Sherlock Holmes ruhte in einem Lehnsessel. Die Jalousien waren zur Hälfte heruntergelassen, und seine Stirn lag fast bis zu den Augen im Schatten. Er freute sich offenbar, mich zu sehen, denn er begrüßte mich, als hätte sich gar nichts geändert und als wäre ich nie fort gewesen. Mit einem leisen Bedauern musste ich allerdings feststellen, dass er nicht allein war. Mein alter Sessel auf der anderen Seite des Kamins wurde von einer kräftigen, schwitzenden Gestalt eingenommen, in der ich augenblicklich Inspektor Athelney Jones von Scotland Yard erkannte, den Detektiv, dessen fehlgeleitete Vermutungen und Aktionen etliche Irritationen, aber auch Heiterkeit bei uns ausgelöst hatten, als wir den Mord an Bartholomew Sholto in der Pondicherry Lodge untersuchten. Als er mich sah, sprang er auf, um zu gehen, aber Holmes hielt ihn auf. »Sie kommen gerade zur rechten Zeit, mein lieber Watson«, sagte er. »Sie erinnern sich bestimmt an unseren Freund, Inspektor Jones. Er ist gerade erst gekommen und will mich in einer äußerst heiklen Angelegenheit konsultieren – soviel ich verstanden habe.«
»Ich kann gern später wiederkommen, wenn es nicht passt«, sagte Jones. »Ich möchte wirklich nicht stören.«
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