Laetizia war nachts zu kalt und tagsüber zu heiß, ihre Kleidung roch nach Rauch und Schweiß, der Sand juckte in den Haaren. Und sie fragte sich, warum der Koch sich so viel Zeit ließ mit dem Essen machen, sie aßen viel zu spät vor dem Schlafengehen, und das Kamel-Couscous lag ihr schwer im Magen. Ach, diese Reise war eine einzige Zeitverschwendung, wieso hatte sie sich nichts zu lesen mitgebracht. Sie konnte es kaum erwarten, ins Camp zurückzukehren.
*
Am Flughafen von Sebha herrschte Chaos, Taher musste sich mit ihren Tickets vordrängeln, damit sie zum Check-in durchgelassen wurden. In der Maschine nach Tripolis roch es nach Erbrochenem; es gab lautstarke Auseinandersetzungen, weil sich einige Gäste auf falsche Sitzplätze niedergelassen hatten. Eine Familie wollte nicht getrennt werden, der ausländische Geschäftsmann, der ursprünglich neben der muslimischen Frau sitzen sollte, hatte sich bereit erklärt, Platz zu tauschen. Auf seinem neuen Sitz befand sich jedoch wieder eine libysche Frau, die nicht weichen wollte; entnervt kehrte er zurück. Die Stewards waren hilflos, sie sprachen nur einige Brocken Englisch. Nach einigem Hin und Her griff ein Reiseleiter ein und erklärte, dass die Sitzplatznummern auf libyschen Inlandsflügen nur eine Formsache seien, jeder setze sich, wo er wolle, vorne im Flugzeug sei noch eine Reihe frei. Der Ausländer seufzte laut, herablassend, und trollte sich schließlich kopfschüttelnd.
Laetizia saß neben einem distinguiert aussehenden älteren Herrn. Die erhoffte Erleichterung hatte sich nicht ausgebreitet. Da war nicht einmal indifferente Müdigkeit. Eher das Gefühl einer Niederlage. Ihr Sitznachbar, ein Italiener, fragte sie, ob sie beruflich unterwegs sei oder auch von einer touristischen Reise zurückkäme. Als sie letzteres bejahte, rief er enthusiastisch aus:
„Ah, che bello e il deserto!“ Er sprach mit solch hingebungsvoller Zärtlichkeit von der Wüste, die ihn trotz aller Mühen ergriffen hatte, dass Laetizia sich sofort neidisch in ihrem Sitz wand. Da war sie, messerscharf klar, ihre Unzulänglichkeit. Sie war gefangen in wer-weiß-was, Lebenswelten entfernt von innerer Freiheit. Die Erhabenheit der Wüste hatte sie auf diese Differenz gestoßen. Und sie? Hatte schnell die Augen geschlossen, überfordert, borniert.
Der eine nächtliche Moment, in dem der Himmel mit seinen großen, nahen Sternen so tief aufgehängt war, dass sie geglaubt hatte, ihn zu streifen, wenn sie nicht geduckt ginge, hatte sie extrem verunsichert. Sie hatte die Geister in den altersmüden Felsen erkennen können, und wenn sie gewagt hätte, hinzuhören, hätte sie auch verstanden, was der Wind ihr zuraunte. Er stellte ihr bisheriges Leben von Grund auf in Frage, wollte ihr ein Geheimnis verraten…
Sie hatte gespürt: wenn sie sich der gewaltigen Kraft der Naturschönheit auslieferte, würde ihr die Zuordnung der Kategorien von Raum und Zeit nicht mehr wie gewohnt gelingen. Es würde ihre Sinne und ihre Seele verwirren, aus der Spur werfen, für immer. Ob das Freiheit versprach oder Wahnsinn, hatte sie nicht sagen können. Auch nicht, warum sie gezögert hatte.
Sie hatte gewusst, dass es ihr nichts ausgemacht hätte, wenn die Wüste sie geschluckt hätte und sie fortan nur noch ein Staubkörnchen gewesen wäre. Sie war sehr nahe dran gewesen, sich an eine Düne zu schmiegen, für Tage und Nächte, zeitlos; darauf wartend, dass tanzende Sterne übermütig auf sie herunterprasselten, und sich selbst einfach völlig aufzugeben. Ohne überhaupt zu wissen, wofür.
Die Party war am Abend des nächsten Tages, bei den Eltern eines Siebtklässlers, Familie Blisshaft, in Janzour. Laetizia war noch nie in diesem Vorort gewesen, aber sie hatte eine Wegbeschreibung dabei. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen, die Autos drängelten und schoben sich von beiden Seiten an sie heran; nicht zu viel in die Spiegel gucken, hatten die Kollegen ihr geraten, also richtete sie ihren Blick konzentriert auf das vor ihr schleichende Auto, in dem drei kleine Kinder auf den Sitzen hopsten, in der Heckablage befand sich eine offene Packung Eier. Wenn sie heil über die Kreuzung käme, müsste sie da vorne einen U-Turn machen, dann geradeaus bis zum Monument, danach eine breite Straße passieren, dann rechts…. Da war das Monument, oder? Ein Betonklotz im freien Feld, nur in weiterer Entfernung große Kakteen und flache Häuser, das müsste es wohl sein. Also weiter, Speedbumps, sehr gut; am Ende sollte sie links in einen ungeteerten Weg einbiegen. Ja, da war eine Einfahrt, sehr schmal, sie passte gerade so durch. Der Weg war unbeleuchtet; sie scheuchte mit ihren Scheinwerfern eine Rattenhorde auf. Die Häuser hörten auf, links befanden sich einige Bäume, direkt vor ihr eine Mauer. Unter einem Baum hatten zwei Männer sehr eng beieinander gestanden. Als das Auto sie passiert hatte, waren sie schnell auseinander gegangen, blickten Laetizia nun drohend an und kamen näher. Sie setzte schnell zurück auf die Hauptstraße und wählte mit zittriger Hand die Telefonnummer, die auf der Einladung angegeben war. Niemand hob ab, in ihrem Kopf hämmerte es immer lauter. Sie rief Beate an, die ebenfalls eingeladen war.
„Hallo Laetizia, wo bist du? Findest du den Weg nicht?“ Laetizia bejahte und fuhr zurück zum Monument, von dort gab ihr Beate genaue Anweisungen. Sie war zu früh abgebogen, hatte die breite Straße noch gar nicht erreicht gehabt.
Als sie sie überqueren wollte, passierte es: ein Taxi schoss sehr knapp seitlich an ihr vorbei. Sie zuckte, da war ein explosionsartiges Scheppern direkt neben ihr, zerborstenes Glas, irgendetwas Brutales war mit dem Auto passiert. Laetizia war paralysiert, dann sah sie, dass von ihrem linken Außenspiegel nur noch das Skelett übrig war. Weniger schlimm, als erwartet, von ihrer Warte aus hatte es sich wie ein Überfall angefühlt. Vom Taxi waren nur noch die Rückleuchten zu sehen.
Laetizia fühlte, wie sich ein Feuer in ihr entzündete, und dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie beschleunigte stark und setzte dem Taxi hinterher, saugte sich an den kleinen roten Lichtern fest, bis sie es überholt und mit riskanten Manövern ausgebremst hatte. Der Fahrer hatte mit quietschenden Reifen angehalten und war ausgestiegen. Ein kleiner Mann mit abgenutzten Sandalen, seine Augen schienen vor Wut aus dem Gesicht springen zu wollen. Er klang heiser und brüllte nichtsdestotrotz so laut er konnte, mit der ganzen Kraft seiner Empörung. Laetizias Kopf stand in Flammen, ihr Körper fühlte sich an wie eine Kampfmaschine. Sie stöckelte wortlos zum Taxi, schob ihren engen goldfarbenen Minirock etwas hoch, hob das rechte Bein und trat mit dem spitzen Absatz ihres Schuhs mehrmals gegen die Fahrertür. Zufrieden mit den Dellen ging sie wieder zurück zu ihrem Auto. Der Mann glotzte sie mit offenem Mund an, und bevor er aus seiner Starre erwachen konnte, war sie schon weggefahren.
Laetizia wusste nicht, ob sie über den Vorfall lachen oder entsetzt sein sollte; ihr war am ehesten nach aufgeregtem Gruselkichern zumute. Hatte sich eben ein ihr noch unbekannter Mr. Hyde manifestiert? Puh, nein, zum Teufel mit so viel politisch korrekter Selbstreflexion, die europäischen Gutmenschen hatte ja keine Ahnung! Die Verfechter der Gewaltlosigkeit waren definitiv noch nie in Libyen gewesen. In diesem merkwürdigen Land konnte man nur als rüpelhafter Mann überleben. Da war kein Platz für Frauen, nicht außerhalb des männlichen Windschattens. Sie drehte die Musik laut auf. Eigentlich fühlte sie sich blendend, beschwingt, die Kopfschmerzen waren verflogen. Aggressivität fühlte sich definitiv besser an als Hilflosigkeit. Als sie endlich die Party erreichte, glühte sie immer noch. Das Adrenalin stand ihr gut.
Es war eine heiße Nacht, die Luft schmiegte sich wie schwerer Samt an den Körper. Laetizia hatte gierig gegessen und einige Gläser Sekt getrunken, nun stand sie am hellblau leuchtenden Pool und ließ das Stimmengewirr aus perlendem Gelächter und sonoren Kontrapunkten auf sich niederrieseln. Etwas lag in der Luft. Die Gäste waren eine Spur ausgelassener als bei der letzten Feier, lebenshungriger. Eine Gruppe asiatischer Models in knappen Kleidchen lachte laut (eigentlich waren es aufgehübschte Krankenschwestern, wie Beate ihr später naserümpfend erklären sollte, „auf der Suche nach einem Sugar Daddy, frag mich nicht, wer die hier angeschleppt hat….“); die Frauen fotografierten sich gegenseitig und fanden alle zwei Minuten einen Grund zum Kreischen. Jetzt zogen sie einen großen Mann mit ins Bild, der sich eine von ihnen schnappte, hochhob und so tat, als wollte er sie in den Pool werfen. Noch mehr Gekreische.
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