„Taa-heer! Fraanz! Maaa-riieee!“ Keine Antwort. Was sollte sie tun? Wenn sie ihren Weg bei Sonnenlicht nicht gefunden hatte, würde es ihr in der Dunkelheit erst recht nicht gelingen. Sie fröstelte, es war schlagartig kalt geworden. Wann würden die Schakale herauskommen? Sie kletterte auf einen Felsen hoch, in der Hoffnung, etwas sehen zu können (ach, wieso war sie nicht vorher auf die Idee gekommen, als es noch hell gewesen war!) und vielleicht auch besser gehört zu werden. „Taa-heer!“ In weiter Entfernung stand jemand ebenfalls auf einer Felsspitze und winkte. Taher! Sie schüttelte die Unruhe, die sich leise angeschlichen hatte, ab, kletterte vom Felsen hinunter und lief erleichtert zu ihm hin. Aber, und sie erschauerte, blieb abrupt stehen - der Mann war nicht Taher, und er war auch nicht alleine. Es waren drei Männer, einer schmal, die anderen zwei groß und kräftig, in Jeans und Lederjacken. Sie starrten sie grußlos finster an, und Laetizia spürte, wie sie zu zittern begann. Plötzlich, mit unvermittelter Wucht, kam die Erinnerung an die seit ihrer Ankunft schon erlebten Ohnmachtsgefühle. Sie brannte sich kalt in ihre Knochen ein, durch den neuen Schreck um ein vielfaches potenziert.
„Hello“, sagte sie mit schwacher Stimme, das Zittern unterdrückend. „I am lost, I am looking for my camp.“ Die Männer blickten sie immer noch unbeweglich an, offenbar verstanden sie sie nicht. Der größte von ihnen machte Zeichen, ihnen zu folgen, und drehte sich um. Laetizia konnte unter seiner Jacke eine Pistole erkennen, bei den anderen beiden war sie sich nicht sicher. Sie folgte ihnen steif und hielt den Blick konzentriert auf den Nacken des vor ihr laufenden Mannes gerichtet, um nicht in hysterisches Geschrei auszubrechen. Herrje, wenn sie jetzt nicht Angst haben durfte, wann dann? Sie waren in der Nähe der algerischen Grenze, das war die Region, in der immer wieder Touristen entführt wurden, und diese Typen sahen aus wie Terroristen, wie Entführer, wie Vergewaltiger (was hatten sie denn sonst hier verloren, bewaffnet?).
Der Anführer hatte ausgeprägte Backen- und Kieferknochen, seine dunklen Gesichtszüge wirkten im Mondlicht wie scharf gemeißelt. Der Schmale hatte das Gesicht eines Habichts, mit großer Hakennase und Schlitzaugen, der Dritte vorstehende Augen, eine Glatze und einen angegrauten Islamistenbart.
Der Sand schluckte das Geräusch ihrer Schritte, niemand sprach. Es war so still, dass sie die Männer atmen hören konnte, ein viel zu intimes Geräusch, wie sie fand. Überhaupt war alles viel zu intim! Scheiß auf rassismusfreie Bewertung, sie hatte in wenigen Tagen schon so viel Zügellosigkeit gesehen, was sollte die Libyer hier davon abhalten, sich wie Wildkatzen auf sie zu stürzen? Sie konnte ihre Anspannung spüren -
„Camp? Tourist?“, fragte der mit der Waffe. Laetizia nickte und vermied es, ihm in die Augen zu sehen; man sollte Arabern nicht in die Augen sehen, weil die sich sonst irgendwas dabei dachten (was denn, komm und fick mich, nur weil ich dich angeguckt hab? Genügte ein simpler Blick, um sie einzuladen, zu erregen?) Die Männer blieben stehen, redeten, zeigten auf sie. Dann liefen sie weiter, der Schmale jetzt neben ihr, er roch nach Schweiß. Sie liefen lange, viel zu lange, sie hätten schon längst am Camp sein müssen; und wieso war es hier so unnatürlich still, verdammt? Laetizia presste die Zähne aufeinander und ballte die Fäuste. Hätte es einen Sinn gemacht, wegzulaufen? Aber wohin denn? Was war das nur für eine Idee gewesen, alleine in die Felslandschaft zu laufen? Überhaupt auf diesen Wüstentrip mitzukommen, weit entfernt von jeglicher Zivilisation, hilflos auf andere angewiesen? Was war das für eine absolut naive Idee gewesen, in dieses fremde, fremde, so unglaublich fremde Land zu kommen? Und zu glauben, es mal eben so in die Tasche stecken zu können?
Als sie rechts um einen großen Felsen bogen, stand das Zeltlager direkt vor ihnen. Ein Feuer brannte, und Taher stand auf.
„Ah Laetizia, there you are. Did you get lost? I told you not to go away too far”, sagte er freundlich lachend.
“Na, gut dass’d wieder da bist. Wir ham grad überlegt, ob mer ‘nen Suchtrupp losschickn solln. Aber keiner wollt so recht. Da kemmer jetz zum gemütlichen Teil des Abends übergehen“, sagte Franz ruhig.
Dann machte er sich an seinem Rucksack zu schaffen, wollte eine Flasche Wein herausholen. Taher, der die Bewegung sah und wohl seine Absicht erriet, schüttelte leicht den Kopf und machte eine Augenbewegung in Richtung der Männer. Marie intervenierte, griff zum Rucksack und sprach leise mit Franz. (Überhaupt schienen die beiden recht vertraut. Vielleicht hatten sie Laetizia auch nur als Alibi, als Anstandsdame mitgenommen.)
Taher war auf die Männer zugegangen und unterhielt sich in einem sehr höflichen Tonfall mit ihnen auf Arabisch. Nach einer Weile schüttelten sie ihm die Hand und entfernten sich vom Lager, ohne auch nur einen Blick auf Laetizia zu werfen. Taher setzte sich zurück ans Feuer. Nachdem die Männer außer Sichtweite waren, lachte er leise.
„Laetizia, you were very lucky to arrive back to the camp at all.“ Er lachte noch mehr und schüttelte den Kopf. “These were policemen, they were lost themselves. They should protect a French camp, but they couldn’t find it.“ Franz und Marie lachten erstaunt auf. “They were walking around since hours! I told them where to find the French group, but it’s far away from here. Did you see it? We passed by as we arrived here. Ah“, er schüttelte immer noch lachend den Kopf, „they should not send policemen from the town into the desert. They don’t know anything, they’re not better than you. Only Tuareg know the desert.“ Er wandte sich seinen verhüllten Freunden zu und erzählte die Geschichte auf Tamaschek, sie nickten zustimmend. Anschließend gab er Anekdoten auf Englisch preis, von einem italienischen Reisenden, der nachts ohne seine Brille ausgetreten war und sich nur am Schnarchgeräusch eines Mitreisenden orientiert hatte. Als es ausgeblieben war, hatte er den Weg zurück nicht gefunden und die Nacht im Freien verbringen müssen.
Die Nacht jenseits des Zeltlagers zu verbringen, gemeinsam mit Schlangen, Skorpionen und Schakalen, wie sollte das möglich sein? Vermutlich hatte er keine Sekunde lang die Augen geschlossen und sich nur für den nächsten Morgen einen coolen Spruch überlegt, dachte Laetizia. Sie blickte auf das kleine Feuer, schlürfte Grüntee mit Minze und fühlte sich sehr weit von den anderen entfernt, wie sie entspannt dasaßen, Rotwein tranken, lachten, Tahers Geschichten zuhörten und den Sternenhimmel bewunderten. Niemand hatte nach ihrem Befinden gefragt. Und nirgendwo gab es einen Platz für sie, nicht in dieser kleinen Runde, und auch nicht in ihrem Innersten, wo Scham und Frust alles durcheinanderwirbelten.
In der Nacht wurde sie wach, weil der Wind an ihrer Zeltplane rüttelte. Sie hörte Schakale in nächster Nähe heulen und bemerkte, dass ihre Blase voll war. Sie schälte sich aus dem Zelt, die Tuareg schliefen davor, nur in Decken eingepackt. Wenn sie hinter den Felsen da vorne ginge, wäre dann genug Anstandsabstand gewahrt? Die in silbernes Mondlicht getauchte Landschaft war von einer verwunschenen, weltentrückten Schönheit, aber Laetizia wagte es nicht, sich der Betrachtung hinzugeben, als ob sie sich auch darin unauffindbar verlieren könnte; es war eine noch nie erlebte Stimmung, die an ihren Nerven zerrte, sie an die Grenzen ihrer gewohnten Wahrnehmung führte, sie extrem beunruhigte. -
Außerdem hatte sie keine Zeit, es war kalt, sie beeilte sich und kehrte in ihr Zelt zurück, ohne sich weiter umzusehen. Sie hatte auch am nächsten Tag keine Zeit für einen zweiten Tee, für freundliche Worte, für den Sonnenuntergang oder sonstige kontemplative Betrachtungen. Marie und Franz seufzten abends beim Anblick des Sternenhimmels, pfh!
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