„Ja, was ist denn das für ein Lulu! Wenn Frauen und Kinder sich fürchtn, bitt‘ schön! Aber als Mann muss man doch etwas Durchhaltevermögen zeigen!“, rief Ralf echauffiert.
„Ist er auf eigene Kappe geflogen?“
„RWE hat wohl alle Familienmitglieder evakuiert und jedem Mitarbeiter freigestellt, auch das Land zu verlassen.“
„Shell hat auch schon alle Expats evakuiert.“
„Und was sagt die Botschaft?“
„Jürgen und Frank kommen nachher vorbei. Die müssen heute arbeiten.“
Die Runde verstummte und jeder blickte nachdenklich vor sich hin. Silke ergriff nach einigen Minuten das Wort, sie sah sehr ernst aus.
„Laetizia, um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube sehr wohl, dass sie als erstes die Häuser hier in Regatta plündern werden, wenn keiner mehr da ist. Die wissen doch, dass die Ausländer alle Alkohol bunkern. Und ich bin lieber nicht mehr da, wenn’s soweit ist.“
„Aber wer soll denn die Häuser plündern?“, fragte Laetizia. „Ihr tut ja so, als ob jegliche staatliche Ordnung schon zusammengebrochen wäre!“
Es klingelte an der Tür. Es waren Lachers, Nachbarn von Baumers, die sich verabschieden wollten. Christian Lacher wirkte sehr nervös.
„Ich fahre jetzt die Familie zum Flughafen. Wir wollen nicht mehr warten, bis es vielleicht zu spät ist… die Flüge ausgebucht sind…. also…“ Er zögerte, dann senkte er die Stimme. „Ein Freund hat mich angerufen, angeblich haben die Aufständischen einen Sohn gefangengenommen.“
„Wo? In Bengasi?“
„Äh ja, oder in Darna, ich weiß nicht genau“, antwortete Lacher fahrig.
„Wen?“
„Saadi, glaube ich.“
„Den Fußballspieler?“
„Na den, der diese Brigade anführt.“
„Das ist Chamis! Bist du sicher?“
„Hm, ich hab halt so was gehört… dass sie einen gefangen genommen hätten… also, ich fahr dann mal. Alles Gute noch!“
Nachdem Lachers gegangen waren, redeten alle durcheinander.
„Was sagt denn das Fernsehen?“, fragte Laetizia nach einer Weile.
„Nichts Neues. Die gleichen wackligen Handykamera-Aufnahmen, angeblich aus Bengasi. Demonstranten, denen gezielt in den Kopf geschossen wurde, viel Geschrei. Aber das könnte man irgendwo gefilmt haben“, antwortete Silke.
Laetizia spürte plötzlich, wie sich die Erregung der anderen auf sie übertrug, und das passte ihr gar nicht. In der Sache war sie immer noch der Meinung, dass sie übertrieben, aber sie wusste, dass sie sich leicht von Stimmungen und Schwingungen mitreißen ließ. Deshalb stand sie abrupt auf und sagte zu Silke:
„Ich geh ein bisschen an den Strand. Bis nachher.“
Das Meer war sehr aufgewühlt, ein Sturm bahnte sich an. Laetizia knöpfte ihre Winterjacke zu und band sich einen Schal um den Hals. So kalt hatte sie Tripolis noch nie erlebt. Trotzdem genoss sie es, vom Wind durchgeschüttelt zu werden. Das war ein Chaos, eine Gewalt, die sie respektierte. Sie konnte ihre eigene kleine, künstliche Unruhe gegen den Wind stemmen, der mit jedem Stoß etwas davon abschliff und wegtrug.
Sie wusste, dass sie ein wenig verrückt war – nein, eigentlich wusste sie gar nichts. Manche Freunde nannten sie lachend die Verrückte, aber das war ein Scherz, eine als Scherz verkleidete Wahrheit, wusste sie wirklich, dass sie verrückt war, oder kokettierte sie nur damit, in der Hoffnung, die Verrücktheit sei gerade groß genug, um sie anziehend und interessant zu machen, aber nicht zu groß, um sie zu überfordern? War es nicht anmaßend, so zu denken, vielleicht war sie nicht einmal ungewöhnlich? Wie auch immer, das Meer, in all seinen Verfasstheiten, war das einzige Beruhigungsmittel, das sie akzeptierte. Und das einzige ohne Nebenwirkungen. Im Gegensatz zu Männern.
Laetizia fröstelte, aber sie konnte ihren Blick nicht von den wütenden Wellen losreißen. Es war undenkbar, von hier wegzugehen! Hier war sie frei, der Himmel offen, die Tage unendlich. Ihr Leben in Libyen erschien ihr leicht und trotzdem von einer mysteriösen Bedeutungsschwere, ganz nach ihrem Geschmack.
Das Meer toste nun immer stärker, Wellen und Himmel waren gleichermaßen dunkelgrau, die Gischt war giftig, man musste sich vor ihr hüten! Giftig, wieso giftig? Plötzlich wurde Laetizia übel, eine Sekunde später hatte sie die Vision von Leichen, die an den Strand gespült wurden, unzähligen Leichen, das Meer verfärbte sich schwarzrot von ihrem Blut. Sie wankte einige Schritte zurück, setzte sich in den feuchten Sand, befühlte ihn, machte ihre Jacke auf, um die Kälte zu spüren. Sie brauchte ganz dringend ganz starke sinnliche Erfahrungen, um aus ihrer Phantasie herauszufinden! Sie sah nun keine Körper mehr, aber sie spürte das Böse, das unausweichlich kommen würde. Es war bereits in der Luft, raubte ihr den Atem. Sie war eingesperrt in ihrem Kopf, er dröhnte, und die Kälte, die Rauheit des Sandes drangen nur als abstrakte Information zu ihr durch.
Ach verdammt, warum hatte sie es zugelassen, dass Baumers und ihre Gäste sie mit ihrer Hysterie ansteckten! Sie wusste doch, dass ihr Geist leicht erregbar war, sofort Bilder produzierte, denen sie nicht entrinnen konnte, während die anderen in einigen Stunden vermutlich schon selig betrunken schliefen!
Sie zog ihre Schuhe und ihre Jacke aus, krempelte die Hosenbeine hoch, lief über scharfkantige Steine näher zum Meer. Als sie die ersten Schritte in das eisige Wasser machte, kam die Kälte wie eine Schockwelle und erlöste sie.
Als Laetizia an einem sehr heißen Sommertag, Ende August 2010, aus ihrem Flugzeug stieg, um ihre Stelle als Aushilfslehrerin an der Deutschen Schule Tripolis anzutreten, stellte sich bei ihr ein befriedigendes Gefühl ein. Manche Kommilitonen hätten wohl versucht, diese spezielle Stimmung mit der Freude zu erklären, aus dem Dunstkreis des allmächtigen westlichen Kulturimperialismus zu treten. Aber an diesem Begriff hing ein Rattenschwanz an politischen Konnotationen, und so tiefgründig politisch-sozialkritisch wollte sie gar nicht sein, das war ein glitschiges Terrain! –
Vielleicht würde sie das später noch präzisieren können, Laetizia war froh, den Gedankengang nicht rechtfertigen zu müssen, aber in diesem Augenblick war sie von der Freude erfüllt, sich in einer tatsächlich sehr fremdartigen, von der westlichen Denkweise noch nicht verunreinigten Welt zu befinden. Sie bedauerte, dass die europäisch-amerikanische Lebensart vielen Ländern der Welt ihren Stempel aufgedrückt und die autochtone Kultur soweit verwässert hatte, dass sie sich dem Fremden bereits in einer sauberen und genießbaren Form präsentierte, der abstoßenden Spitzen genauso wie der Tiefe beraubt. Umgekehrt fühlte sie sich von der Bilderflut erdrückt, die es in Deutschland von jedem noch so unerschlossenen Land gab: und seien es Fotografien afghanischer Kämpfer oder der letzten Ureinwohner des Amazonas, es waren Bilder, die sich anbiederten, überall aufdrängten. Sie selber hatte schon vor Jahren aufgehört, zu fotografieren. Es überlagerte und verdarb ihr nur den sinnlichen Eindruck.
Von Libyen gab es kaum Bilder oder Nachrichten (es duldete keine ausländischen Journalisten), es war jahrzehntelang verschlossen gewesen und war selbst jetzt nur nach Durchlaufen eines schwierigen Visaverfahrens und zum Teil nur mit Geleitschutz zu bereisen. Es war ein weißer Fleck in Laetizias Wahrnehmung gewesen, und das hatte sie enorm gereizt. Dort gab es gewiss keine Authentizitäts-Kitsch-Produktionsindustrie, die für Touristen Intensitätsgefühlshäppchen fertigte („Wenn Sie von dieser Stelle den Sonnenuntergang fotografieren, werden Sie einen unvergesslichen Moment erleben.“ „Genießen Sie die reichen Aromen der Landesküche bei einer einzigartigen traditionellen Mahlzeit und lassen Sie sich verzaubern von der einmaligen Schönheit der Landschaft und der Herzlichkeit der Einheimischen.“…)
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