„Oh ja, danke.“ Sie kauten beide, Laetizia lobte das Essen, dann blickten sie aufs Meer hinaus. „Es ist windig heute, ganz ungewohnt.“
„Oh nein, eigentlich ist das normal.“, erwiderte Frau Brunner. „Am Meer weht immer ein frischer Nordwind, da spüren Sie nicht mal die 35°. Und in Janzour erstickt man vor Hitze. Die letzten Wochen Windstille waren nicht normal.“
„Wohnen Sie auch in Janzour?“
„Ja, ganz in der Nähe von Carmen. Wo gestern die Party stattfand, Carmen Blisshaft.“
„Ah.“ Laetizia erinnerte sich an die dunklen Straßen und den ungewöhnlichen Höhepunkt ihrer Irrfahrt durch das Viertel. Sie schüttelte den Kopf, wie um die lästigen Gedanken an die Reparatur des Außenspiegels abzuschütteln.
„Und, wie gefällt Ihnen Libyen?“, fragte Frau Brunner interessiert. „Haben Sie schon etwas vom Land gesehen?“
„Ja, ich war in Leptis Magna und in der Wüste, bei Maridat.“
„Oh la la, und das in der kurzen Zeit! Sind Sie immer so schnell? Ich versuche mich seit einem Jahr innerlich auf einen Wüstentrip vorzubereiten.“ Claire Brunner blickte sie neugierig lachend an.
Laetizia gehörte zu jenen Menschen, die schnell und schonungslos ihre Seele öffnen. So war sie einige Male nackt und schutzlos dagestanden, aber trotz manch erlittener Verletzung konnte sie sich nicht verschließen. Sie wusste nicht, ob dies irgendwann zu einer Katastrophe führen würde oder einfach dazu, dass sie sich zurückziehen und nur zu wenigen Menschen Kontakt pflegen würde, um die Anzahl der Personen, denen sie sich auslieferte, zu begrenzen. Noch war alles offen. Aber Claire Brunner würde ihre rohe Haut noch sehen, das war ihr bereits nach einigen Minuten klar. Kein Gedanke, nur eine kleine instinktive Ahnung.
„Wie war es denn, in der Wüste?“, fuhr Frau Brunner fort, nachdem sie nicht geantwortet hatte.
„Hm, seltsam. Ich konnte mich nicht darauf einlassen, glaube ich. Sie ist bestimmt wundervoll, aber ich war wohl noch nicht soweit.“, antwortete Laetizia ehrlich, und Frau Brunner lachte erneut, bevor sie erwiderte:
„Sehen Sie, das denke ich mir auch schon die ganze Zeit. Mein Mann hat mich zum Zelten am Strand überredet, und ich bin froh darum, es ist wirklich schön. Aber Wüste ist noch mal eine ganz andere Kategorie. Was ist, wenn ich davon erschlagen werde und dann erschüttert feststelle, ich muss mein Leben ändern? Dabei kann ich mein Leben aber nicht mehr ändern! Und dann ist das hier ja nicht gehobene Touristenklasse. Mal ist das Auto kaputt, dann fährt der übernächtigte Fahrer gegen den einzigen krüppeligen Baum weit und breit… Bei Freunden hat sich der Geländewagen in den Dünen überschlagen, weil die Fahrt zu rasant war… hm, naja, irgendwann werd‘ ich es wohl noch machen, inshallah!“
Die größeren Mädchen waren aufgesprungen und tänzelten unruhig vor ihnen herum.
„Mama, können wir schwimmen gehen?“
„Ja, klar -“
„Ich auch!“, rief Marlene.
„Chantal, Lilly, nehmt ihr bitte Marlene mit und -“
„Och nö!“
„Das war ja wohl klar!“, maulten die Großen.
„Keine Widerrede! Ihr nehmt Marlene mit und schwimmt nicht zu weit raus.“
„Dürfen wir bei der Brücke spielen?“
„Ja, das ist okay.“
„Vielen Dank für das Essen…“, setzte Laetizia die Konversation zögerlich fort.
„Oh, Sie wollen doch noch nicht gehen? Bleiben Sie noch ein bisschen! Wollen Sie etwas trinken?“, fragte Frau Brunner. „Hier! Ein Aperol Spritz? Den habe ich eigentlich für meine Freundin Silke mitgebracht, aber sie fühlte sich nicht wohl und wollte nicht zum Strand runterkommen.“ Und fügte, als Laetizia sie abwartend anblickte, hinzu: „Silke Baumer, wohnt auch hier im Camp. Lernen Sie bestimmt noch kennen.“
Sie machte sich an der Kühltasche zu schaffen, reichte Laetizia eine rosafarbene sprudelnde Flüssigkeit in einem Kinderbecher und prostete ihr mit einem „Allahu akbar!“ zu.
Laetizia hätte fast ihren Drink verschüttet. War das nicht der Spruch, den der Imam fünfmal am Tag vom Minarett rief? Sie wollte nicht spießig oder unverständig dastehen und grinste vorsichtshalber verschwörerisch. Claire Brunner nahm einen Schluck, sah sich nach den Kindern um und lehnte sich schließlich zurück.
„So, und jetzt müssen Sie mir erzählen, was Sie von Libyen halten, von ihrem Leben hier.“
„Oh, es ist sehr interessant. Ich mag es, wenn Länder ungewöhnlich, ein bisschen sperrig sind, ich erkunde gerne Sachen.“ Frau Brunner sah sie skeptisch an.
„Und wieweit sind Sie gekommen mit dem Erkunden, abgesehen von Leptis und der Wüste?“
„Naja, nicht sehr weit, zugegebenermaßen“, antwortete Laetizia. „Ich hab einen ganz schlechten Orientierungssinn und das stellt in Libyen ja eine besondere Herausforderung dar. Außerdem hab ich den Eindruck, dass ich extrem auffalle, selbst in dezenter Kleidung. Hm, es ist schade, ich würde gerne mehr von der Kultur der Menschen erfahren… aber da komm‘ ich irgendwie gar nicht hin.“
„Willkommen im Club! Also, ich könnte jetzt natürlich sagen: lassen Sie sich Zeit, das wird schon noch kommen, nichts überstürzen, langsam für das Land und die Menschen öffnen. Was zum Teil natürlich richtig ist, vor allem bei ihrem Tempo.“ Frau Brunner lachte fröhlich auf. „Aber auch wenn Sie Libyer kennen lernen, und das werden Sie -“, sie deutete auf drei dickbäuchige Männer, die im seichten Wasser mit ihren Kleinkindern plantschten, ihre verhüllten Frauen saßen weiter entfernt unter Sonnenschirmen, „das, was Sie von den Menschen hier sehen, sind nur Schattenrisse, ihre Projektionen, je nachdem, was für ein Arabienbild Sie haben. Sie werden nie zu ihrem Kern vordringen und sie wirklich verstehen; weil sie es gar nicht zulassen.“ Sie war ernst geworden und blickte nun aufs Meer hinaus, hing kurz ihren Gedanken nach. „Sie haben doch hoffentlich keine Orientfantasien, oder? Dafür gibt es nämlich kein unpassenderes Land als Libyen! Ich habe bis jetzt nichts Prosaischeres und Banaleres gesehen. Obwohl, so eine Familienfehde, die hat es in sich. Wenn dann zugunsten der Ehre gemordet, aus Scham Selbstmord betrieben wird. Schön archaisch. Sehr leidenschaftlich. Und dann der große Verrückte mit seinen endlosen Reden und den wirren Haaren! Hach, das sind eine Menge Themen, können wir gerne noch vertiefen, wenn Sie wollen.“ Laetizia nickte. „Wissen Sie, was mir eingefallen ist?“, fuhr Claire Brunner fort, „Der Herausforderung bei der Erkundung der Gegend können wir Abhilfe schaffen. Wann haben Sie frei, Sie sind doch nur Hilfslehrerin, oder?“ Wieder nickte sie. Anscheinend wussten in dieser kleinen Gemeinschaft alle bestens über Neuzugänge Bescheid.
„Mittwochs.“
„Den ganzen Tag? Das ist ja fantastisch. Mittwochs haben alle meine Mädels AG, selbst Marlene. Und ich zeige Ihnen die Stadt, was halten Sie davon?“
„Oh, das hört sich toll an!“, antwortete Laetizia. Frau Brunner überlegte kurz mit gerunzelter Stirn.
„Wohnen Sie im Camp? Dann hol ich Sie am besten ab. Am Eingang, um zehn Uhr?“ Sie verabredeten sich für die kommende Woche, anschließend gesellte Frau Brunner sich zu ihren Kindern und Laetizia zog sich höflich auf ihr Handtuch zurück.
Bevor Claire losfuhr, trat sie hinaus in den Garten, um nach dem Wetter zu sehen. Sie hatte am Abend zuvor wieder einen fürchterlichen Streit mit Hermann gehabt. Und jetzt war sie den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen, die Verletzungen von allen Seiten zu begutachten, mal in mildem, versöhnlichem Licht, dann wieder im harten Schein der Empörung. Ihr Kopf schien vom vielen Denken angeschwollen zu sein, alles Blut hatte sich dort angesammelt.
Der Pool schimmerte grünlich, bestimmt hatte Joseph vergessen, das Algenmittel hineinzugießen! Aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Es war ruhig, sie blickte auf die von Bougainvillea gesäumte Mauer. Ein warmer Wind umschmeichelte ihre nackten Beine, sie schloss kurz die Augen, wollte ihren Kopf auch in den Wind legen. Der wurde jedoch plötzlich von einem kalten Hauch, vom Meer kommend, rau angeblasen. Das liebe ich so, dachte sie, berührt von der Poesie des Naturschauspiels. Das gibt es nur in Libyen. Nord- und Südwind, die miteinander kämpfen. Durch ihre Haare pustete der salzige Atem des Meeres, um ihre Beine spielte, wie der Schwanz einer trägen Katze, die Luft der Sahara. Der Nordwind wird den Südwind gleich zurück in die Wüste schicken, er hat schon fast gewonnen.
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