»Was ist los?«, brachte ich hervor, ich hatte sie noch nie in meinem Leben so gesehen.
»Du darfst nicht …«, stieß sie hervor, aber ihre Tränen schnürten ihr die Stimme ab.
Plötzlich erschien unsere Mutter hinter ihr, ich erstarrte und blickte sie von unten her an, auch sie stand mit der Sonne im Rücken und zeigte ein düsteres, böses Gesicht, das mir zugewandt war und bereits mit einer Strafe zu drohen schien. Sie stemmte die Arme in die Hüften und fragte uns ungeduldig, was los sei und warum wir so schrien. Ich blickte Frieda angsterfüllt an, wir wussten, dass wir den Hof nicht verlassen sollten, aber ich hatte es trotzdem getan, in kindlichem Übermut und Sorglosigkeit. Als jetzt aber Mutter bei uns war, war das Verbot wieder präsent und es war klar, dass ich gegen etwas verstoßen hatte, was unbedingt beachtet werden musste. Der Tod unseres Vaters schwebte über uns wie ein drohendes Schicksal. War nicht auch er durch Unachtsamkeit umgekommen? Ich wusste es nicht bestimmt, aber der Geist des toten Vaters wurde ständig beschworen, wenn es darum ging, uns die Gefahren zu verdeutlichen, die auf dem Hof lauerten und uns nach dem Leben trachteten. Der Hof, das war kein neutrales Ding, keine unschuldigen Gebäude und kein Land, das uns freundlich gesonnen war. Es gehörte uns, aber wir hatten den Regeln zu gehorchen, die die Umgebung uns auferlegte, wir mussten Gesetze beachten, und wenn wir es nicht taten, drohte Bestrafung. Das war uns nie in diesen Worten gesagt worden, aber wir wussten, was gemeint war, wenn es hieß, dass wir achtzugeben hatten, dass wir aufpassen sollten und dass es Gefahren gebe, die uns überraschen würden. Es lag keine beständige Stimmung der Angst über unserem Spiel, solange es sich in Grenzen hielt, aber ich hatte eine dieser Grenzen überschritten, und die Angst hatte Frieda als Erste übermannt, weil ich in meinem Spiel einfach vergessen hatte, was unbedingt beachtet werden musste. Jetzt starrte ich Frieda an und hoffte, dass sie nichts sagen würde. Ich war wieder zurückgekehrt, stand am Rand des Hofes und nicht mehr in der verbotenen Zone, in Reichweite der Klauen der ständigen Gefahr, die von dem ausging, was sich hinter der Scheune und jenseits davon befand. Meine Schwester sagte zunächst nichts, bis meine Mutter ihre Frage wiederholte, dann hob Frieda langsam die Hand, zeigte zuerst auf mich, dann aber an mir vorbei und deutete mit ihrem zitternden Finger hinter die Scheune und auf die ansteigende Wiese. Diese mündete nach ein paar Hundert Metern in den Tannenwald, der so dicht war, dass das Sonnenlicht nach kurzer Zeit schlichtweg in ihm verschwand und den Blick versperrte.
»Ich …«, begann sie, »ich glaube, ich habe einen Fuchs gesehen.«
Meine Mutter ließ ihren Blick schweifen und suchte den Waldrand ab, konnte aber natürlich nichts entdecken. Ich war gerettet, meine Schwester hatte mich vor der unweigerlich drohenden Strafe bewahrt, und unsere Mutter erklärte uns, dass Frieda sich geirrt haben müsse und ein Fuchs nie so nahe an den Hof herankommen würde, vor allem nicht, weil Rex doch auf uns aufpasste. Wie um uns weiter von unserer Sicherheit zu überzeugen, ging sie in die Mitte des Hofes, auf dem Rex lag, streichelte ihm über den Kopf und redete ihm zu, dass er uns beschützen werde, laut genug, damit wir es hören mussten. Aber wir hatten keine Augen für den Hund, wir starrten uns nur gegenseitig an. Nach einer Weile wurde mir Friedas Blick unheimlich, ich drehte mich um und sah an der Bretterwand der Scheune entlang, die mir jetzt schon etwas gefährlicher vorkam im Vergleich zu vorhin, als ich daran entlanggerannt war. Der alte Pflug lag tatsächlich verrostet, drohend im Weg, einige der Klingen unter langem Gras verborgen, das Gitter über dem Schacht war alt und vom Wetter angegriffen, man konnte wirklich nicht wissen, ob es halten würde, wenn man darüber hinweglief. Ich blickte wieder zurück und sah Frieda an.
»Danke«, sagte ich so leise, dass sie es gerade noch verstehen konnte, aber unsere Mutter war nach einem kurzen Blick schon wieder auf dem Weg ins Haus und hatte nichts gehört.
»Mach das nicht noch mal«, zischte Frieda mir drohend zu, drehte sich weg und ging zu Rex hinüber, um sich bei ihm zu vergewissern, dass er tatsächlich auf uns aufpassen würde, wenn der Fuchs, den sie gesehen hatte, dem Hof zu nahe käme.
Man mag sich fragen, wie es ist, mit drei Frauen auf einem Hof zu leben, relativ abgeschottet von der Außenwelt und jeglichem männlichen Einfluss entzogen. Die wahrscheinlich gar nicht so erstaunliche Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Ich weiß es nicht, denn ich habe den Unterschied nie erlebt. Ich bin unter dem Einfluss von drei Frauen aufgewachsen (später vier, aber dazu an anderer Stelle mehr) und kann nicht sagen, was passiert wäre, wenn mein Vater oder eine andere männliche Hauptperson zugegen gewesen wäre. Ich hätte mich in einigen Dingen bestimmt anders entwickelt, dafür wären bestimmt auch Seiten, die ich jetzt an mir entdecke, nie so ausgebildet worden, wie es der Fall war. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich den Umgang mit den Menschen, die mich umgaben, sehr genau gelernt habe. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, zu wem ich gehen konnte, wenn ich ein bestimmtes Anliegen hatte, oder vielmehr: zu wem ich auf keinen Fall gehen durfte, wenn ich etwas Bestimmtes erreichen wollte. Ich weiß nicht, ob ich den Umstand bedauern sollte, aber es stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass ich meistens zu meiner Großmutter ging, mich dann meiner Schwester anvertraute und erst an letzter Stelle meine Mutter kam, wenn ich mit jemandem reden wollte. Dabei war sie diejenige, die am häufigsten beteuerte und uns sogar darauf einschwor, dass wir eine Familie seien, uns bedingungslos vertrauen könnten und müssten und dass danach ganz lange niemand mehr komme. Aber vielleicht war es genau dieses Abschotten von den anderen, dieses Ziehen einer Grenze, die mich davon abhielt, meiner Mutter alles anzuvertrauen. Es schien, als hätte ihr Bestreben, uns von den Einflüssen anderer fernzuhalten, viel eher dazu geführt, dass ich die Nähe genau dieser Personen suchte, und sei es nur, um festzustellen, ob meine Mutter recht hatte oder nicht. Bei meiner Schwester schien der Mechanismus anders zu funktionieren, sie lebte für die Familie als geschlossene Einheit, in die nichts Fremdes eindringen konnte, obwohl es zunächst den Anschein hatte, als wäre sie diejenige, die gegen die Regeln meiner Mutter am ehesten aufbegehren würde. Sie war es, die irgendwann sagte, sie sei in Ketten gelegt worden, aber irgendetwas war passiert, dass sie diese Ketten als etwas Gutes ansehen ließ. Ich habe sie nie direkt darauf angesprochen, aber irgendwann gab es einen Streit zwischen ihr und meiner Mutter, die bei angelehnter Tür in der Küche saßen, während ich im Flur spielte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was geredet wurde, jedoch ging es darum, dass Frieda nicht mehr wollte, dass Onkel Ernst uns besuchen käme, aber sie wollte meiner Mutter nicht sagen, woher diese plötzliche Ablehnung kam. Die ließ sich jedoch nicht abwimmeln und drang weiter und weiter und immer heftiger auf sie ein, bis meine Schwester tatsächlich zusammenbrach. Ich weiß nicht, was in der Folge passiert ist, denn plötzlich stand meine Mutter im Flur vor mir, herrschte mich an, es sei nicht statthaft, zu lauschen, schickte mich auf mein Zimmer im Obergeschoss und knallte die Küchentür hinter sich zu. Später kam Frieda die Treppe hoch, auf deren Absatz ich oben wartete, ihr Gesicht war rot und verquollen, sie hatte geweint und ging ohne ein Wort an mir vorbei, um in ihrem Zimmer zu verschwinden. Ich folgte ihr, klopfte zaghaft an ihre Tür und fragte, ob ich ihr helfen könne, erhielt aber keine Antwort. Währenddessen vernahm ich meine Mutter, die jetzt mit Großmutter stritt. Sie waren beide in der Küche, ich verstand kein Wort und schlich mich langsam nach unten. Was ich hingegen durch die geschlossene Tür hörte, ergab für mich keinen Sinn. Konsequenz dieser Auseinandersetzungen war jedoch, dass Onkel Ernst nie mehr auf den Hof kam, unsere Großmutter aber in der Folge häufiger den Hof verließ, um in das Dorf zu gehen, was meine Mutter sehr missbilligte. Auch in den folgenden Wochen kam es immer wieder zu Streitigkeiten hinter verschlossenen Türen, die meine Großmutter einmal nur dadurch beenden konnte, dass sie das Zimmer verließ und meiner Mutter seelenruhig entgegnete, wenn sie nicht mehr erwünscht sei, könne sie auch gehen. Zu dieser Zeit konnte unsere Großmutter allerdings noch auf dem Hof helfen, deswegen wäre es dumm gewesen, sie wegzuschicken. Als sie später nicht mehr in der Lage war, mit anzufassen, war es zu spät und meine Mutter zu sehr gute Christin, um sie vor die Tür gesetzt zu haben.
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