Jan Holmes
Ein Zimmer ohne Aussicht
Jan Holmes – Ein Zimmer ohne Aussicht
Texte, Umschlagfoto und -gestaltung:
© Copyright 2019 by Jan Holmes
Verlag: Jan Holmes
janhwriter@gmail.com – www.janholmes.de
c/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 Leichlingen
Druck: epubli
Heute
Die Sonne war längst untergegangen, es war stockdunkel, nur das Lagerfeuer erhellte die Runde der Freunde. Wir hatten uns sattgesehen an den Unmengen an Sternschnuppen, die über dem Atlantik ihre Bahnen zogen und hier sichtbar waren, abseits der Städte, die mit ihrem nebligen Schein den Himmel anstrahlten und alles unsichtbar machten, was sich dort bewegte. Es war kalt, wir hüllten uns in Decken, hielten uns aneinander fest, erzählten Geschichten, Anekdoten, Witze, bis uns nichts mehr einfiel. Fast alle Getränke waren geleert, wir sahen einander an, beinahe peinlich berührt angesichts der Stille, die von uns ausging, während die Wellen im Hintergrund rauschten, aber wir hörten sie nicht mehr. Irgendjemand spielte mit einer leeren Flasche, rollte sie vor sich hin und her, sah in die Runde, nahm eine Zigarette von seinem Nachbarn und starrte wieder auf das Glas, in dem die Flammen sich spiegelten. Er drehte die Flasche, die sich im Sand kaum bewegte, sodass der Hals direkt neben ihm zur Ruhe kam. Er blickte auf, sah seine Freundin an und fragte: »Wahrheit oder Pflicht?« Sie lachte, ließ ihren Blick durch die Runde schweifen und wusste, dass wir spielen würden. »Pflicht«, sagte sie und musste ihren Freund dafür küssen. Die anderen johlten, fanden die Aufgabe langweilig und forderten eine Wiederholung, was die beiden dazu animierte, sich noch einmal zu küssen. So ging es eine Weile weiter, wir waren müde, die Fragen und Aufgaben zunächst harmlos und erst im Laufe der Zeit anstrengender und schlüpfriger. »Was war dein aufregendstes Erlebnis?«, »Was war der außergewöhnlichste Ort, an dem du Sex hattest?«, »Was ist der außergewöhnlichste Ort, an dem du gerne einmal Sex hättest?«, waren Fragen, und kaum jemand nahm »Pflicht«, weil niemand Lust hatte, sich erheben zu müssen, um zum Beispiel Treibholz auf seiner Nase zu balancieren. Schließlich zeigte die Flasche auf mich, ich hatte meinen Nachbarn im Verdacht, dass er sie mit Absicht nicht richtig gedreht hatte, wusste aber, dass keine Chance bestand, gegen die Entscheidung zu protestieren, das Schicksal hatte entschieden, ich war fällig und wählte ebenfalls »Wahrheit«. Ich war auf vieles vorbereitet gewesen, auf das Aushorchen intimer Geständnisse, peinlicher Erlebnisse oder anzüglicher Erfahrungen, aber nicht auf das, was jetzt kam. »Hattest du eine glückliche Kindheit?«, fragte mich mein Nachbar, und die ganze Runde brach in tobendes Gelächter aus. »Was ist das denn für eine blöde Frage?«, rief jemand, Köpfe wurden geschüttelt, der Fragesteller geschubst und mit einem leeren Weinkanister beworfen, der aber ließ sich nicht beirren und beharrte auf einer Antwort.
Was gab es dazu zu sagen? Die Frage war für ein Spiel dieser Art gänzlich ungeeignet. Man konnte einfach mit »Ja« oder »Nein« antworten, niemand würde die Angabe überprüfen können, und der Nächste wäre an der Reihe. Es gab nichts zu gestehen, nichts zuzugeben, nichts war peinlich. Es sei denn, man antwortete mit »Nein«, aber das entspräche in meinem Fall nicht der Wahrheit. So einfach die Frage war, so wenig hatte ich jemals über sie nachgedacht. Über meine Kindheit selbst hatte ich mein halbes Leben lang gebrütet, aber eine einfache Aussage darüber, ob ich glücklich gewesen war, konnte ich nicht treffen. Die Aufregung ließ langsam nach, die ersten Augenpaare richteten sich auf mich, es wurde erwartet, dass ich antwortete und das Spiel weitergehen konnte.
»Natürlich«, sagte ich und blickte dabei zu Boden. Ich nahm die Flasche und drehte sie, so fest ich konnte.
Irgendwann begann das Spiel langweilig zu werden, Feuchtigkeit zog herauf, uns wurde zu kalt, und wir machten uns auf den Weg durch die Dünen, zurück zu unseren Betten. Die Nacht war wolkenlos, der Himmel glich einer perforierten Folie, unzählige Lichter blickten auf uns herab und schienen zu zwinkern. Wieder sahen wir fallende Sterne, aber niemand machte mehr ein Aufheben darum, der Reiz des Einmaligen war lange verflogen, niemand hatte noch Wünsche übrig, die er, verstohlen und heimlich, dem Schweif hinterherschicken wollte. So trotteten wir matt und sprachlos durch die Dünen, jeder beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken oder auch nur mit der Leere in seinem Kopf, die in der Schwärze über uns ihre Fortsetzung nahm. Mir war nicht so leicht ums Herz, in meinem Inneren hallte immer noch die Frage nach, die mir gestellt worden war, und vielmehr noch meine Antwort. Niemand hatte später etwas dazu gesagt, es wurde sofort weitergespielt und kurze Zeit darauf war die Aufregung vergessen, so wie alles andere schon Momente später wieder vergessen sein würde, es war nur ein Zeitvertreib für die anderen. Das sollte es für mich auch sein, trotzdem nagte die Frage an meiner Seele, und ich war so in Gedanken versunken, dass ich zusammenzuckte, als mir jemand auf die Schulter schlug. Ich drehte mich um und konnte niemanden erkennen, bis ich meine Lampe hob und ihm ins Gesicht leuchtete. Es war der Fragesteller, und auch ihn schien die Situation weiter zu beschäftigen.
»Das hat dir was ausgemacht, oder?«, fragte er und sah mich dabei nicht an, so als hätte er etwas zu verbergen und dürfte niemanden wissen lassen, dass wir miteinander sprachen.
Ich stellte mich dumm. »Was meinst du?«
»Die Frage. Du hast lange gezögert.«
»Ich wollte ehrlich sein.«
»Und? Warst du es?«, wollte er wissen, es klang wirklich interessiert, aber ich hatte keine Lust, ihm zu antworten.
»Spielen wir immer noch?«
»Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.«
Aber ich wollte antworten und die Wahrheit sagen, nur vermochte ich es nicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich zögernd und meinte es auch so.
»Du hast ›Natürlich‹ gesagt.«
Ich blickte in seine Richtung, konnte aber wieder nichts erkennen, sodass ich nicht einzuschätzen vermochte, wie sein Drängen gemeint war. Wollte er mich herausfordern, mich zu einem Geständnis zwingen oder mich einer Lüge überführen? Oder war er tatsächlich an mir interessiert, wollte er wirklich wissen, wie es in meinem Inneren aussah? Ich hatte keine Lust, zu dieser Stunde und in diesem Zustand weiter darüber zu sprechen, und sagte es ihm. Ihm schien es nicht so zu gehen, er hob zu einer weitschweifigen Erklärung an und ließ sich umständlich darüber aus, dass er seine Frage gar nicht so lächerlich finde, wie die anderen es hatten aussehen lassen, schließlich umfasse die Kindheit eine lange Zeit, niemand könne doch mit Sicherheit sagen, dass ein derart umfangreicher Lebensabschnitt nur von einem Gefühl geprägt worden sei, Glück oder Unglück, das sei einfach nicht möglich. Je länger er redete, desto mehr musste ich ihm zustimmen und desto überzeugter war ich schließlich, dass wirkliches Interesse aus seiner Rückfrage sprach. Trotzdem verstand ich immer weniger, warum er überhaupt eine Frage dieser Art stellte, wenn er doch wusste, dass sie eigentlich nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnte. Aber vielleicht war das einfach seine Art von Humor, der allerdings in dieser Runde und bei diesem Spiel keinen Anklang gefunden hatte.
Wir erreichten unsere Zimmer, verabredeten eine Zeit für das gemeinsame Frühstück, das die Hälfte von uns, wie immer, verpassen und die andere Hälfte nur äußerst verkatert einnehmen würde, und verabschiedeten uns. Ich lag noch eine lange Zeit wach und betrachtete Szenen aus meiner Vergangenheit, aus meinem früheren Leben, in meinem Kopf. Ich konnte die Frage immer noch nicht beantworten, aber einer meiner letzten Gedanken vor dem Einschlafen war der, dass ich nicht unglücklich gewesen war.
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